„Beeilt euch“, sagte Aslan hastig, „nichts Gutes ist hier im Gange, ich fühle es …“ Er lief vom Treppenabsatz hinüber zu seinem Wagen, der stand und wartete, bereit zur Abfahrt, Inge war hinaufgeklettert, Magdalena in Empfang zu nehmen.
„Steig du auch hinauf“, sagte Aslan zu Grand Mère, indem er am Kutschbock stehen blieb, „Steig hinauf, und dann tragt sie unter die Plane, aber es muss schnell gehen.“
Grand Mère hielt sich nicht mit Erwiderungen auf, sie erklomm trotz ihrer Leibesfülle hurtig den Wagen, Aslan hob Magdalena hinauf, das war nicht schwer, und die beiden Frauen nahmen sie in Empfang, Inge griff ihr unter die Arme, Grand Mère packte die Beine, so schafften sie sie in’s Innere, dort war das Lager bereitet.
„Was ist …“ sagte Magdalena undeutlich und öffnete die Augen, „fahren wir, fahren wir?“ Die Gerüche des Wagens drangen in ihre Nase, das Holz, die Plane, die Stoffe, das Melassefass, Honig, Gewürze, die eisernen und irdenen Geräte … es fuhr ihr in die Glieder, sie begann sich zu rühren, widerstrebte den Frauen, die sie auf das Lager betten wollten. „Nein“, sagte sie, „jetzt lasst mich doch, ich muss vorne sitzen, neben Aslan, das ist mein Platz …“ Und sie versuchte aufzustehen, schwach kämpfend.
„Kommt nicht in Frage“, sagte Grand Mère. „Du bleibst hier liegen … du kannst nicht draußen sitzen, du bist zu schwach dazu.“
Inge blieb zögernd neben dem Lager stehen. „Ich möcht lieber hier bleiben“, sagte sie.
„Das geht nicht“, antwortete Grand Mère. „Du musst zu Roger, bei dem sind die Kleinen, du musst auf sie aufpassen.“
„Also was ist los?“ fragte Aslan und streckte den Kopf zur Plane herein. „Sind wir soweit?“
„Ja doch“, antwortete Inge eilig. Sie warf noch einen Blick auf Magdalena, die verwirrt um sich schaute, indes Grand Mère beruhigend auf sie einredete, dann kletterte sie hinaus, an Aslan vorbei, und sprang hinunter vom Kutschbock.
Im Augenblick, da Inge unten war, schwang Aslan die Peitsche und brüllte, und die Ochsen schwenkten die Hörner und drückten die Nacken gegen das Joch, ein Ächzen fuhr durch das Wagengestell, die Plane schütterte, und dann begannen die Räder sich zu drehen, Vautrin sei Dank, dachte Aslan mit Erleichterung, als er die Erschütterungen und das Rumpeln des fahrenden Wagens unter sich spürte, gleich würde alles wieder in Ordnung sein, in’s Rechte gesetzt, sie waren wieder unterwegs.
Inge lief an dem anruckenden Gefährt vorbei nach hinten, zu Rogers Wagen, Roger saß schon oben und hielt die Zügel in der Hand, aber es tat nicht not, dass er die Tiere antrieb, sie spitzten die Ohren, als sie Aslan rufen hörten, und als sich der Wagen vor ihnen in Bewegung setzte, senkten sie die Köpfe und zogen an, Inge hatte eben noch Zeit aufzuspringen.
„Was ist bloß los?“ fragte sie. „Was ist los im Haus?“
Roger zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht“, sagte er, den Blick auf die Ochsenrücken gerichtet.
„Und die Kleinen … sind die Kleinen gut versorgt?“ fragte Inge weiter, und ohne Rogers Antwort abzuwarten, streckte sie den Kopf durch die Plane und schaute nach hinten, sie konnte nichts erkennen, der Blick war verstellt, von allerlei Gerät, so rief sie: „Waldemar, Eluard … ist alles in Ordnung?“
„Ja“, rief Waldemar zurück, durch das Rumpeln und Ächzen der Räder. „Wir sind hier hinten …“
„Gut“, murmelte Inge beruhigt, dann drehte sie sich wieder um und setzte sich aufrecht, neben Roger auf dem Kutschbock. Sie verschränkte die Hände im Schoß und knetete nervös an ihren Fingern.
Lili lief hinter den Wagen her, so schnell waren die ja nicht, noch nicht, sie konnte Schritt halten, wenigstens so einigermaßen, und Jeremias hatte sich ihr angeschlossen, aus purer Angst, allein zu bleiben.
Waldemar und Eluard hockten oben und streckten die Köpfe hinaus, der Weg glitt wieder an ihnen vorbei, gleichmäßig, schnell in den Augenwinkeln, unmittelbar hinter dem Wagen langsamer werdend, um dann hinten in ein stehendes Bild einzugehen, das sich nur allmählich, mit Ruhe, veränderte.
Vor dem Hintergrund des Bildes hüpfte ein kleines Mädchen, und ein alberner kleiner Junge folgte ihr.
„Werdet ihr weit fahren, heute, ganz weit?“ fragte Lili.
„Oh ja“, antwortete Waldemar, Eluard ließ ihm den Vortritt, wenn solche Fragen gestellt wurden, Waldemar war das Kind der Wagen … „Oh ja“, antwortete Waldemar, „wir fahren den ganzen Tag, das ist weit.“
„Bis zur großen Straße?“ fragte Lili. „Bis zur großen Esche?“ Das war der weiteste Punkt, zu dem sie je gekommen war.
„Viel weiter noch“, antwortete Waldemar, „das sind ja nur ein paar Stunden, wir fahren noch viel, viel weiter …“
„Oh“, machte Lili, obwohl ihr vom Laufen der Atem knapp wurde, und sie presste ihre Puppe gegen die Brust und heftete die Augen fest auf den davoneilenden Wagen, den vorderen konnte sie nicht sehen, und Eluard dachte, bleib doch zurück, es hat ja keinen Zweck, aber er sagte nichts, saß nur da und schaute auf sie hinunter, und Jeremias galoppierte hinter ihr her, mit seinem verbrüllten und verschwitzten Gesicht, er wusste nicht, was er hier tat, aber da er nun einmal angefangen hatte zu laufen, rannte er auch weiter, mit offenem Mund und ziellos umherirrendem Blick, da war nirgendwo ein Gesicht, in das er hätte hineinheulen können … und wenn er nun einfach stehenbliebe und sich mitten auf den Weg setzte und losplärrte? Niemand würde es auch nur bemerken, das fühlte er, und so rannte er weiter, und ohnmächtige Wut stieg in ihm auf.
Dunkel war es im Wald des Innenhofes, unter den Linden und Kastanien, die dichtbelaubten Kronen verschatteten den Grund unter dem Regenhimmel. Gleichmäßig der Trott der Ochsen auf dem Weg, dem guten, festgefahrenen Weg.
Aslan blickte auf die schwarzen Rücken, die Tiere griffen aus, sollte er sie antreiben? Nein, besser nicht, etwas hielt ihn zurück, es sollte nicht gar zu sehr nach Flucht aussehen, sie hatten ja keinen Grund …
„Wie geht es?“ fragte Grand Mère und streckte den Kopf heraus.
„Wir sind gleich draußen“, sagte Aslan, „bei der Brücke …“
„Bei Vautrin“, sagte Grand Mère, „nie noch sind wir irgendwo abgereist auf diese Weise … Magdalena schläft, es tut ihr gut, wieder auf dem Wagen zu sein, glaube ich.“
Aslan nickte. „Es geht ihr also besser?“ fragte er vorsichtig.
„Ja“, antwortete Grand Mère. „Es ist nur die Schwäche, weißt du, das wird sich bald geben.“
„Da ist das Tor“, sagte Aslan, und zwischen den Bäumen leuchtete die weiße Umfassungsmauer hervor, mit dem turmgekrönten Tor, wohl fünf Minuten hatte der Weg gekostet, nicht mehr.
„Gleich seid ihr fort“, rief Lili, „dort kommt das Tor …“
„Ja“, antwortete Waldemar und drehte sich halb um, aber natürlich konnte er nichts sehen.
Hinter Lili, zwischen den Baumwipfeln, schauten immer wieder die Türme und Dächer des Hauses hervor, mächtig war es, unergründlich, Eluard dachte an die Wirrnis der Gänge und Treppen und Korridore, und an das Turmzimmer des Tischlers Bertram, an die Fenster, von denen man die Berge sehen konnte, die blauen Berge …
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 03.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)