Altweibersommer

In gewisser Weise hat es das Menschtier einfach: muss auf IHRE Stimme hören, und IHRE Stimme ist ihm sicherer Weiser im Gespinst seiner Konstruktionen.

Aber da ist ja noch seine Freiheit.

Seine Freiheit, auf IHRE Stimme zu hören, oder SIE davonzujagen aus der Burg seines Innen und dem falschen Gast Obdach zu gewähren.

Hat SIE so entschieden.

Also ist das Leben des Menschtieres einfach und kompliziert zugleich. Das Menschtier fängt Gespinste aus der leeren Luft, wie Kinder nach den Spinnfäden des Altweibersommers haschen, und nehmen sie für Blaupausen der Wirklichkeit. Dergestalt, dass der Besitzer eines Gespinstes meint, nun müsse er die Wirklichkeit gar nicht mehr beachten, denn er habe ja das Gespinst. Das Gespinst an sich ist weder gut noch böse, es ist einfach freie Fingierung, herausgegriffen aus den unerschöpflichen Welten des Möglichen. Kann einen Roman machen aus dem Gespinst, das Menschtier, ein Musikstück! Statt dessen macht es ein politisches Programm daraus. Kommen in dem Gespinst richtige Wesen und falsche Wesen vor, gute und böse, sortiert plötzlich das Menschtier alle Wirklichkeit und alle Menschwesen nach diesem Schema. Bastelt sich Systeme und Religionen und Entwürfe, und weiß mit keckernder Zuversicht: Endlich die Wahrheit! Endlich der finale, der alleinseligmachende Entwurf! Tretet alle ein in die neue Partei die neue Kirche! und wer draußen bleibt, der wird schon merken, was er davon hat.

Im Grunde war der freie Markt, der freie Markt der Meinungen und der Waren, schon immer der Naturzustand gewesen des Menschtieres, denn immer und überall auf seinem Planeten entsprangen neue Ideen dem Boden neue Erfindungen neue Entwürfe. Wie Pilze nach warmem Regen. Unter dem Einfluss des Lederflügligen suchte stets das Menschtier jede neue Erpoppung zur definitiven Lösung zu erklären, die alle Unruhe und dieses ständige neue Werden und Geschehen zur Ruhe brächte. So viele Gedanken! jammerte das Menschtier. Wir wollen endlich den einen richtigen, den einen wahren Gedanken!

Ungefähr wie die Bibliotheksmütter das wahre Buch, wie die jungen Weibchen den einzig richtigen Gefährten wollten.

Tatsächlich könnte man diese Unsicherheit, diese Angst, diese Verzagtheit des Menschtieres angesichts allzu ausgebreiteter Wahlmöglichkeiten als seinen weiblichen Zug bezeichnen.

Als demnach der Gedanke des Marktes sich endlich durchsetzte, war damit keine neue Idee in der Welt, im Gegenteil, die allerälteste. Neu war, dass das Menschtier nun die Offenheit und Ungewissheit des Marktes als seine eigentliche Sphäre erkannte und begrüßte. Wir wollen nicht mehr ein und für alle Mal festlegen, was morgen zu geschehen hat, sagten die Menschwesen nach der religiösen Wende. Wir wollen nicht mehr heute festlegen, was wir morgen denken müssen. Wir wollen das Morgen erwarten als das Neue, das Unerwartete!

Was das Menschtier unterscheidet von den anderen Tieren, das ist: das Menschtier steht in jedem Augenblick vor der Fülle der Unendlichkeit. Vor der unerschöpflichen und unauslotbaren Fülle des Möglichen. Es muss sich nicht verirren in diesem Garten. In ihm erklingt IHRE Stimme, IHRE weiße Stimme, die ihm in jedem Augenblick sagt: Ja, tu das, mein Kind – oder: Da halt dich fern, mein Kind.

Dass IHRE Stimme die gültige Richtschnur ist im Garten des Möglichen, das weiß das Menschtier von Anbeginn. Wie sollte es nicht. Seit Anbeginn klingt ja IHRE Stimme in ihm.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 31.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)