Die Mitmacherinnen

Nichts hatte global das Handeln der Menschtiere so verändert wie diese gewandelte Einstellung, nach der es keineswegs darauf ankam, dass jeder zu jedem Glauberhaus jederzeit Zutritt haben müsse, schließlich hatten auch weiterhin die, die schon drin waren, das Sagen darüber, wen sie willkommen heißen wollten und wen nicht, sondern dass jeder, der drin war, das Recht hatte, nach seinem eigenen und niemandem rechenschaftspflichtigen Willen zur Tür hinauszuschlüpfen – und zwar, ohne dass ihm Steine hinterhergeworfen würden. Hier, wie kaum irgendwo sonst, zog der Einstellungswandel konkreten Verhaltenswandel nach sich.

Schon zur Zeit des Jungen war demnach offensichtlich geworden, dass mit der einfachen Theorie von der „Unterdrückung“ etwas nicht stimmen könne. An der Rede von der Unsichtbarkeit der Frauen in der Geschichte aber war etwas dran. Das Alltagsleben der Frauen in vergangenen Zeiten war deutlich schlechter dokumentiert als das der Männer, und die Dokumente waren noch einmal deutlich schlechter aufgearbeitet. Die Frage nach dem Alltagsleben zielte auch auf die andere Frage, welchen Einfluss die Frauen auf ihre Männer gehabt hatten, und über die Männer auf die öffentliche und die veröffentlichte Meinung. Ein fetter Anteil des Lesestoffs, der zur Zeit des Unnachahmlichen produziert worden war, war von Frauen geschrieben worden, und die Leser und Käufer waren mindestens zur Hälfte Frauen gewesen, und selbst wenn die Männer kauften, hatten die Frauen mitgeredet. Die Frage nach der angemessenen Lektüre für Mädchen und junge Frauen hatte das Nachdenken nicht zuletzt weiblicher Schulmeister beschäftigt. Bevormundung, na sicher. Aber hatten die Schulmeisterinnen ihre jungen Opfer nun deshalb bevormundet, weil sie selber von Männern bevormundet wurden, oder war die Tendenz zur Bevormundung ein kulturelles Phänomen gewesen, das auf Konsens beruhte? Konsens, von Männern und Frauen gleichermaßen getragen? Die weiblichen Schulmeister waren gerne unverheiratet gewesen, weil sie auf ihre Freiheit sahen, ihre eigene und persönliche, umso gnadenloser aber war ihre Bevormundung der jungen Weibchen.

Zensur der Lektüre!

Der Junge, mehr als hundert Jahre später, hätte, wäre ihm diese Verpflichtung geworden, ein Kind ganz einfach in die Bibliothek hinausgeschickt mit dem Bedeuten: Such dir was aus. In seiner eigenen Kindheit war durchaus noch ein etepeteter Blick auf das gute Buch gerichtet worden, das jungen Lesern in die Hand zu geben wäre – man beachte das Gefälle -, was der Junge schon als Kind einfach lächerlich gefunden hatte. Für ihn gab es nur aufregende Bücher und langweilige Bücher, und was wohin gehörte, das entschied er selber. Selbst in seinem Alter sah er ringsum noch Mütter, die sich von ihren Kindern die Bücher vorzeigen ließen, die diese lesen wollten, zur Genehmigung. Mütter, nicht Väter. Er sah das in den Bibliotheken, sah die Mütter, die genau kontrollierten, was das Kind mit nach Hause nehmen wollte, und unter Umständen sagten, nein, das ist nichts für dich, oder: Lies doch mal was Ordentliches! Oder die zur Bibliothekarin gingen – auch meistens Frauen – und sagten: Was soll mein Kind lesen? Der Junge hätte eine einfache Antwort gehabt, lass das Kind sich zwanzig Bücher aussuchen auf Verdacht, nehmt die mit heim, und zu Hause blättert das Kind alle durch, bei wenigstens einem wird es dann schon hängen bleiben. Und er sah den ängstlichen Blick der Mütter: Ja, aber es muss doch auch das richtige Buch sein! Das wertvolle Buch! Das anerkannte Buch! Mein Kind soll sich nicht mit dem falschen Buch abgeben! Das richtige Buch muss es sein!

Das richtige Buch, das war für diese Köpfe: das Buch, anerkannt von der Gemeinschaft. Das gebilligte Buch.

Das Buch, überliefert von der Gemeinschaft als wertvoll.

Ja nicht auf eigene Faust suchen nach den Büchern! Ja nicht auf das eigene Urteil vertrauen! Ja nicht bei dem Urteil des Geanders die Achseln zucken!

Ja nicht!

Irgendwie kam er um den Gedanken nicht herum, der Junge: Da ist was in den Frauen, das sie so denken lässt. Hat nichts mit Kultur oder Gewohnheit zu tun. Ist tief in denen drinnen.

Tiefe Angst, nicht angepasst zu sein. Angst, nicht mitzumachen. Angst beim Gedanken, womöglich gegen den Strom zu schwimmen und ganz unversehens dabei ertappt zu werden.

Angst, womöglich die rechte Strömung verpasst zu haben.

Angst, nicht dabei zu sein.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)