Es war ja nicht so, dass die Männer aller Vergangenheiten die Frauen verachtet und gehasst oder auch nur gefürchtet und deshalb unterdrückt hätten. Die meisten Menschmänner zu allen Zeiten mochten die Weibchen und suchten ihre Gesellschaft und hatten keinesfalls Gefallen daran, nur unter sich zu sein. Im Hause entschieden die Weibchen meistens allein, und eine streitwillige Frau wurde nicht unterdrückt, sondern vielmehr gefürchtet. Welch wandernder Geselle neu in das Haus eines Meisters kam, der wusste gleich, er musste mit der Frau sich gut stellen. Es gab die Fülle der Regeln, immer, in allen Menschgesellschaften, und die Einhaltung der Regeln wurde eifersüchtig beobachtet. Wenn ein junges Weibchen aus der Reihe tanzte und zu viel mit den hübschen jungen Kerlen sich abgab, musste sie nicht die Kritik der Männer fürchten, sondern die Blicke der anderen Frauen. Das galt noch für die Zeit nicht allzu lange vor den Geburten des Jungen, als die Frauen überall auf der Welt um das Wahlrecht kämpften. Sie mussten nicht zuerst die Männer, sondern die anderen Frauen überzeugen. Als ihnen das gelungen war, fügten sich die Männer ihrem Willen. Die Männer stellten sich nicht gegen den Willen der Weibchen, sobald diese den Konsens kündigten und unter ihresgleichen eine Mehrheit gefunden hatten. Mehrheit unter ihresgleichen, das hieß für gewöhnlich: Diskussionen in der Familie, Streit, Widersetzlichkeit. Die jungen Frauen fingen an, ihren Vätern zu widersprechen. Die Väter hatten schnell keine Lust, das noch länger mitzumachen, sie sahen, auch die Mutter stellt sich jetzt auf die Seite der Tochter, was solls, dann sollen sie eben kriegen, was sie wollen. Werden schon sehen, was sie davon haben.
In den alten Zeiten war den heranwachsenden Weibchen gesagt worden: Du musst deinem Vater gehorchen, und wenn du heiratest, musst du tun, was dir dein Mann sagt. Sie bekamen das von ihren Müttern und Tanten gesagt, nicht von den Vätern und Brüdern, und sie sagten es ihren Töchtern weiter, und wenn die Töchter sich nicht daran hielten, bekamen sie es mit dem geballten Missfallen der Frauen zu tun. Es gab auch zur Zeit des Jungen noch Regionen auf dem Planeten Erde, da riskierten aufsässige junge Frauen, ihrer Aufsässigkeit wegen ermordet zu werden, von den jungen Männern der Familie, und hinter den jungen Männern standen die älteren Frauen, die sagten: Du musst jetzt die Ehre der Familie retten, das ist deine Aufgabe als Mann, die Ehre der Familie steht höher als das Leben deiner Schwester, deine Schwester ist nicht mehr deine Schwester, sie ist bloß eine Schlampe, sie hat die Ehre der Familie in den Dreck getreten, die Ehre muss wiederhergestellt werden, du tu das, bist du ein Mann oder eine Memme?
Der Junge wusste aus den Biographien des Unnachahmlichen, in dessen Stadt hatte es der Frauen genug gegeben, die die Regeln verletzten, die ihrem eigenen Mutwillen folgten, zusammenlebten zum Beispiel, mit welchem oder mit welcher sie wollten. Wenn sie gebildet waren und amüsant und betucht, hielten sie offene Häuser, und man konnte im Kerzenglanz ihrer Gesellschaftsabende jeden treffen, nämlich jeden Mann, der in der Hauptstadt etwas galt, aber seine Frau ließ der Mann zu Hause, die wäre nicht mitgekommen, es sei denn, ihr Ruf wäre auch nicht der beste gewesen. Umgekehrt konnten die Männer zweifelhafte Frauen zu ihren Gesellschaftsabenden nicht einladen, ihre Ehefrauen hätten das niemals erlaubt. Es waren die Frauen, die über die Einhaltung der Etikette wachten, und das konnte blutig enden. Jahrhunderte zuvor waren die Zeugen in den Hexenprozessen überwiegend Zeuginnen gewesen, und wenn die Obrigkeit nicht zügig genug gegen eine vermutete Hexe vorging, zogen die Frauen schreiend und protestierend vor das Rathaus. Rauchte dann der Scheiterhaufen, war er umringt von Frauen, und ihre Blicke waren nicht voll Mitleid. Trafen sich die Weiber abends am Brunnen, verhandelten sie die anderen Frauen, wer gehört dazu, wer nicht. Zur Gemeinschaft. Mit der Gemeinschaft hatten es die Frauen stets und allüberall. Stets und überall wussten sie über das rechte das angemessene Verhalten Bescheid. Wussten alles Tun und Lassen seiner Norm zuzuordnen. Heulten die kleinen Jungen, weil sie hingefallen waren, bekamen sie nicht von den Männern zu hören: Ein Junge weint nicht, es waren die Frauen, die das sagten, und auch hier war der Ton mitleidlos. Noch der Junge kannte das. Die Weiber verhöhnten und demütigten ihn nach Kräften, und als er noch klein gewesen war, vier Jahre oder so, hatte er gelegentlich zu weinen begonnen. Heult der schon wieder, hatte die Grimmvettel gehöhnt, so eine Memme! ein richtiger Waschlappen! Er hatte schnell gelernt, der Junge, sich nichts anmerken zu lassen, er entgegnete allen Überfällen, selbst den Prügelattacken, mit starrer Unbewegtheit. Der fühlt ja überhaupt nichts! höhnte die Pferdeschnauzige. Das ist, als wenn man gegen die Wand redet! Klotz! Stoffel! Bei dem Reden war es dann selten geblieben, sie lebte sich aus, die Pferdeschnauzige, man gönnte sich ja sonst nichts.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 13.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)