Im Brunnen

Unten war Morgenkühle und Dämmer zwischen den Bäumen, zwischen den Linden und Kastanien, und feine rieselnde Nässe, es hatte wieder geregnet des Nachts, und der Himmel war zugezogen noch immer, mit tiefhängenden, eilenden Wolken, die würden sich wohl nicht mehr auflösen des heutigen Tages.

„Gehen wir noch mal zum Brunnen?“ fragte Waldemar, und Halbord nickte, das machen wir, und die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung, Halbord und Waldemar vorneweg, dahinter Jeremias, nörgelnd wie immer, und zum Schluss Lili und Eluard.

Lili und Eluard.

Sie hatten beide schlecht geschlafen, aus unterschiedlichen Gründen, hatten blasse Gesichter, wie sie die Unruhe und das Grübeln der Nacht zeichnen, Eluard war aufgeregt, sein Herz klopfte, das war eine jagende Mischung aus Freude, Freude darüber, dass es weiterging, und Angst, Angst vor der Veränderung; Lili aber trauerte, weil er fortging, und sie allein zurückbleiben musste in dem Labyrinth des Hauses, dessen Bedrohungen sie sich nur durch Schweigen erwehren konnte, und durch lange, fernhinfliegende Träume.

Sie hielt Eluard bei der Hand und sah ihn immer wieder an, mit ihrem klaren Blick, der nur aufnahm, nie festhielt, und Eluard war verlegen und wusste nicht, was er sagen sollte.

Die kreisrunde Brunnenfassung war gemauert aus hellen Buckelquadern, darüber erhob sich, mit spitzem Runddach, das hölzerne Gestell mit der Winde; der Eimer stand auf der Einfassung, und die Kette hing herab.

Die Kinder spähten über den Rand, der war ziemlich hoch, Jeremias griff hinauf in dem Versuch, sich hochzuziehen, und da es ihm nicht gelang, begann er weinerlich zu krähen: „Häää … häääh“, mit auffordernden Blicken zu Halbord und Waldemar, und die beiden hoben ihn ein Stück, dass er hinunterblicken könne in den Brunnen, und Halbord hatte schon wieder ein rotes Gesicht.

Schwarze Röhre, an ihrem Grund eine ferne, mattspiegelnde Scheibe, das musste der Wasserspiegel sein, und es gluckste leise.

„Das kommt vom Regen“, erklärte Halbord, „wenn es geregnet hat, steigen da immer Luftblasen hoch, das gluckert dann.“ Er war stolz darauf, dass er das wusste, und dass er es so fließend erklären konnte.

„Ich will einen Stein hinunterwerfen“, rief Jeremias, es klang ziemlich krähend, und Waldemar fühlte sich abgestoßen, nein, so wollte er nicht sein, er nahm sich vor, achtzugeben, dass er nie ähnliche Laute ausstieß …

„Das geht nicht“, erwiderte Halbord mürrisch. „Dietrich hat es verboten, wenn da jeder einen Stein reinwirft, was glaubst du, dann ist der Brunnen bald voll.“

„Ich will aber!!“ schrillte Jeremias, und Lili sah in an und sagte ruhig und mit heller Stimme: „Du bist widerlich.“

Jeremias klappte den Mund zu und war still, als hätte irgendwo einer aufgehört, eine Kurbel zu drehen, und er sah mit staunendem Ausdruck von einem der Kinder zum anderen, ob da eine endgültige Bestimmung gefunden worden sei, eine Festlegung und Seinsaussage, und er fühlte die Pein der Wahrheit.

„Da geht es ganz tief runter“, sagte Lili, ohne ihn weiter zu beachten, „und da leben Leute unten, ganz viele …“

„Leute?“ fragte Halbord.

„Ja“, erklärte Lili eifrig, „da sind ganz viele Gänge unten, und dann ist da ein Haus, das ist ganz genauso wie unseres, nur eben umgekehrt … ja, und auch die Leute sind genau dieselben wie hier oben, nur eben umgekehrt …“

Halbord sah sie an, und es war in ihm ein Gefühl, das um Ausdruck rang, er wusste das Wort nicht, aber das Gefühl war da, in zehn Jahren würde er auch das Wort gefunden haben, das Wort zum Gefühl, es lautete: „Weiber …“, aber für diesmal musste er sich mit dem Blick begnügen.

Lili kehrte sich nicht daran, sie drehte sich um zu Eluard und fragte: „Verstehst du?“

„Ja sicher“, antwortete Eluard, „alles eben genau umgekehrt.“

„Gleich kommen die Ochsen“, sagte Waldemar. „Die freuen sich bestimmt, dass sie wieder rauskommen aus dem Stall.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)