Sag nichts

Die Mühle klapperte gemächlich dort unten am Fluss, wälzte die Morgennebel, und bald würde es an der Zeit sein zu mahlen; aber dann würden die Kaufleute schon fort sein, weit fort.

Inge stand oben auf dem Absatz der überdachten Holztreppe und schaute hinunter in den Hof, die Hand auf’s Geländer gelegt, wer weiß, was sie sich überlegte, ihr Blick war abwesend. Rumor klang im Haus, und Geflüster der Weiber, es war etwas im Gange, Kunde und Offenbarung meldete sich an –

„Je eher wir hier wegkommen, desto besser,“, sagte Grand Mère, und es war nicht Furcht in ihr, aber doch ein Wissen um Dunkelheiten und Gewalt, die waren zu vermeiden, auch sie hatte ein Schifflein zu steuern, Grand Mère, und sie wusste, was dem Menschen zukam und was nicht. Und Aslan hatte genickt, und Roger hatte genickt, so war es beschlossene Sache.

Unten im Hof standen schon die Wagen, klein und gedrungen sahen sie aus, von hier oben, vom Treppenabsatz, Aslan und Roger hatten sie herbeigeschoben, und David und der Vater von Antonias Kind hatten ihnen geholfen, das sagte jedenfalls Roger, Inge war nicht dabei gewesen, sie hatte sich ja um Magdalena kümmern müssen.

„Möchte wissen, wo Dietrich steckt“, sagte Roger. „Ziemlich wäre es doch, dass wir uns von ihm verabschiedeten, und ihm dankten seine Gastfreundschaft, ihm und dem ganzen Haus.“

„Wohl wahr“, antwortete Aslan, „doch können wir ihn nun nicht suchen, ich habe David beauftragt, ihn zu bescheiden, im Übrigen weiß er ohnedies, dass wir weiterziehen wollen des heutigen Tages, das muss genügen …“

Sie standen zwischen den Wagen und warfen prüfende Blicke die Hausfront entlang, und dabei sprachen sie mit gedämpften Stimmen, als fürchteten sie, jemand möchte lauschen, in übler Absicht.

„Doch habe ich es noch nie erlebt, dass ein Hausherr verzichtet, die Gäste selbst zu entlassen, sei es in Frieden oder in Unfrieden …“ sagte Roger, und er fühlte sich nicht behaglich, sie hatten die Wagen aus der Remise hinter dem Haus holen müssen wie Einbrecher, lediglich die beiden jungen Männer hatten ihnen geholfen, sonst hatte sich niemand blicken lassen …

„Davon schleichen wir uns wie Diebe in der Nacht“, fuhr Roger fort, und das stimmte, sie waren Gäste des Hauses gewesen, und nun gingen sie wieder ihrer eigenen Wege, das waren zwei verschiedene Dinge, und dazwischen hatte eine Zäsur zu sein, ausgefüllt mit würdigen Gesten und Worten, mit Verabschiedungen und Segenswünschen, und mit Versicherungen, ihr seid das Haus, wir sind die Kaufleute, und handelt ein jeder nach seiner Gestalt und Gewalt, wie es ihm zukommt nach Vautrins Willen, und ehren wir einander und gegenseitig.

Aslan zuckte die Achseln. „Bereiten wir alles vor, und kommt die Stunde, so entfernen wir uns, ob mit oder ohne Hausherr, Vautrin hat’s dann so gewollt.“ Das war ein gutes Wort, fest und beruhigend, wir sind, was wir sind, sagte es, und gehen unserer Wege, wie es uns zukommt, und fragen nicht nach Beistimmung; und Roger nickte und sagte: „Dann holen wir jetzt die Tiere?“

„Ja“, sagte Aslan, „nicht länger sollten wir verweilen.“

Sie gingen zum Stall, und oben, auf dem Treppenabsatz, knarrte die Tür, und Grand Mère trat heraus. „Wo sind die Männer, mein Kind?“ fragte sie, und Inge antwortete: „Sie sind gerade hinter das Haus gegangen … sie werden jetzt die Tiere holen, denke ich.“

Grand Mère nickte. „Das ist gut … sobald sie eingeschirrt sind, und die Wagen bereit zum Aufbruch, werden wir Magdalena hinuntergeleiten, sie wird gehen können, doch sollten wir sie stützen … hast du dein Bündel bereit?“

„Ja, Grand Mère“, antwortete Inge, und ihr Blick war noch immer flüchtig und ergriff nicht die Dinge. „Ich bin bereit, ich möchte nur wissen, was hier vor sich geht im Haus.“

„Besser ist’s, nicht zu fragen“, sagte Grand Mère grimmig. „Vieles geschieht hier, und groß ist der Reichtum Vautrins an Geschichten, doch sind nicht alle mit Wohlgefallen zu betrachten und zukömmlich, weißt du … Hast du die Frau Elisabeth gesehen?“

Inge schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt noch niemanden habe ich heute gesehen aus dem Haus, außer … ach ja, die zwei jungen Männer da, die Aslan und Roger geholfen haben, aber die kenne ich ja nicht …“

„Wie?“ fragte Grand Mère. „Der eine war doch David, den kennst du … und mit dem anderen, warst du da nicht gestern bei der Mühle, zur Arbeit?“

„Ach ja“, sagte Inge und erinnerte sich.

Grand Mère schaute sie an, mit einer gewissen Irritation, aber da war diese feine unsichtbare Schranke, diese Warnung, aus Luft und Schweigen geboren, die so zuverlässig rät, nicht weiterzufragen, und Grand Mère verfolgte das Thema nicht und fragte statt dessen: „Und die Kinder?“

Inge wies mit einer Kinnbewegung: „Die sind dort unten, dort bei den Bäumen … die Kinder aus dem Haus sind auch dabei, glaub ich.“

Grand Mère sagte: „Sie werden sich wohl nicht zu weit entfernen, sie wissen ja, dass es weitergeht … ich geh jetzt wieder rein und kümmere mich um Magdalena.“

„Ja“, antwortete Inge und starrte blicklos vor sich hin, die Hand auf’s Geländer gelegt, und Grand Mère schaute sie nachdenklich an, sagte aber nichts, drehte sich um und ging hinein.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)