Kleiner Mann, kleine Frau

Irgendwie hielt sich hartnäckig die Vorstellung, es wären doch eigentlich die Männer gewesen, die die Geschichte gemacht hätten, die Einstellungen getragen und den Wandel der Einstellungen bewirkt und erlitten. Aber irgendwo waren da doch auch die Frauen gewesen? Wenn einer über das Handwerk in der Zeit der filigranen Tempel arbeitete, hatte er die Handwerksmeister im Blick, über deren Frauen jedoch schwieg er, oder er widmete ihnen in einer langen Untersuchung höchstens ein Unterkapitel. Die Sache wurde nicht besser dadurch, dass die Taschen auf dem moralischen Ohr genauso harthörig waren wie die traditionell orientierten Historiker. Frauen als handelnde Subjekte der Geschichte zu begreifen, hätte ja nun bedeutet, den Frauen unabwälzbare Eigenverantwortung zuzusprechen, Verantwortung beim Mitmachen, Verantwortung im Konsens. Dazu aber wollten sich die Taschen nicht verstehen. Alles, nur das nicht. Frauen waren nicht verantwortlich für den Fortgang der Geschichte, schon gar nicht für die Katastrophen der Geschichte, denn Frauen waren ja nicht handelnde Subjekte: Frauen waren Opfer. Frauen, so wussten die Taschen für gewiss, Frauen machten nicht, mit Frauen wurde gemacht, von den Männern. Sie konnten sich höchstens im Geheimen wehren, widerständig und subversiv, in verborgenen Frauenzirkeln. In ihren Frauenwelten, wie man nun gern sagte. Die Kriege und die Unterdrückung, die rassistischen Gemeinheiten und die Massenmorde: alles eine Sache der Männer, die Frauen waren da außen vor, denn sie waren ja die Unterdrückten.

Schon zu Lebzeiten des Jungen galt allen ernstzunehmenden Historikern dieser Unfug als das, was er war: unhaltbar. Die Taschen hatten aber noch das Sagen, wenn es um die Frauenforschung ging, und die taschenschwingende Frauenforschung wusste: die Kriege die Atrozitäten die Massaker, das waren immer die Männer.

Der Junge, der wie jedermann die Bilder der jubelnden Massen beim Auszug der Krieger kannte, die jauchzenden Frauen vorweg, Blumenkränze im Haar, hatte mit zunehmendem Alter immer weniger Lust, sich den doktrinären Unfug der Taschen vorreden zu lassen. Er war nicht der Einzige. Es waren die jungen Frauen gewesen, die im Lande des Unnachahmlichen zum Beispiel in Kriegszeiten truppweise durch die Straßen geschwärmt waren, auf der Jagd nach jungen Männern, denen sie mit der Frage „Warum bist du nicht an der Front?“ eine weiße Feder ans Jackett hefteten, zum Zeichen, dass dieser ein Waschlappen sei. Höhnisch kreischend, versteht sich. Das höhnische Kreischen klang als Echo durch die Publikationen der Taschen, das half ihrer Reputation nicht auf.

Neben so vielem anderen hatten die Taschen mit den Stiefeln und den Mützen gemeinsam, dass, wer mit ihnen ins Gedränge geriet, versucht sich fühlte, erst mal zu argumentieren.

Was soll das für einen Sinn haben, sagten sich die Vernünftigen. Mit dem Blödsinn zu argumentieren, ist Zeitverschwendung.

Die Fiktionen und Friktionen der Taschen hatten diese Scheinplausibilität an sich, die bei den Glaubensbereiten für glasig aufgerissene Augen sorgt, aber nur bei diesen. Insofern lässt sich mit einiger Berechtigung sagen, die Taschen behinderten lange Zeit eine angemessene Frauenforschung in der Historie eher, als dass sie sie gefördert hätten. Zu Zeiten des Jungen waren weltweit praktisch alle Lehrstühle, die sich mit „Frauen in der Geschichte“ befassten, von weiblichen Gelehrten besetzt, so weiblich wie unbegabt, wie ich schon sagte, als sei die Erforschung der Frauengeschichte ein weiblicher Feldzug gegen die Männer. Und genauso sahen das auch die Taschen.

In der Tat, rund um den Globus, zu allen Zeiten der Geschichte des Menschtieres auf dem Planeten Erde, waren es die Menschenmännchen gewesen, die rausgegangen waren und gemacht hatten, und die Weibchen waren die gewesen, die zu Hause geblieben waren und den Herd versorgt hatten. Das herrschende Geschlecht waren die Frauen gewiss nicht gewesen, nicht in dem Sinne, dass sie den Knüppel geschwungen hätten. Waren deswegen die Männer das herrschende Geschlecht gewesen? Aber was sollte Herrschaft überhaupt bedeuten? War Herrschaft überhaupt eine ernstzunehmende analytische Kategorie, wenn Herrschaft ausschließlich mit dem Schwingen des Knüppels identifiziert wurde?

Die Frauen in alten Zeiten hatten durchweg andere Rechte gehabt als die Männer, andere Rechte, andere Pflichten, andere Ordnungen. Andere Gebräuche Rituale Selbstverständlichkeiten. Andere Gewissheiten, auch andere Selbstvergewisserungen. Es war überall für sie ganz einfach ein anderes Leben vorgesehen gewesen als für die Männer, weil man verstand, sie hatten ein anderes Sein als die Männer. Frauen waren Wesen anderer Art als die Männer, und Männer von anderer Art als die Frauen. Hatten die Frauen deswegen weniger Macht gehabt?

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)