Drinnen war es wirklich finster. Aus irgendwelchen entfernten Räumen drang Geklapper, und Stimmen auch, die Frauen bereiteten das Essen, dort musste es eine Beleuchtung geben, aber es fiel kein Schimmer hinaus auf die Korridore.
Eluard hielt sich an Lili fest und ließ sich von ihr führen, er hatte die Angst, gegen eine Mauer zu rennen oder über etwas zu stolpern, oder eine Treppe hinunterzufallen. Es war Schwärze um ihn herum, undurchdringliche Dunkelheit, er konnte sie körperlich spüren, als einen leichten Druck auf den Augen, und er roch den Steingeruch der Gewölbe und fühlte in den Ohren die Weite oder Enge der Korridore, und schon nach zwei Schritten verstand er nicht einmal mehr die Richtung, in der sie gingen. Er hob die Beine übertrieben vorsichtig, wie jemand, der im Dunkeln eine Treppe ersteigt und nicht weiß, wann die letzte Stufe kommt, er war nahe davor, selbst das Gefühl für oben und unten zu verlieren.
Lili hingegen hatte keine Mühe, sich zu orientieren, und sie fürchtete sich auch nicht in der Dunkelheit, denn, wie gesagt, Eluard war ja bei ihr … „Manchmal spielen wir das“, sagte sie.
„Was?“ fragte Eluard.
„Na, das“, antwortete Lili. „Einer kriegt die Augen verbunden, und die anderen führen ihn, hu, das ist komisch, aber vorher wird er ein paar Mal im Kreis gedreht, sonst ist es nicht richtig … Ja, und dem Jeremias, dem erzählen wir immer, jetzt käm ein Abgrund, haha, und der glaubt das immer, und dann kriegt er ganz furchtbar Angst, haha …“
„Haha“, lachte Eluard, ohne rechte Überzeugung.
„Aber wenn ich geführt werde“, fuhr Lili fort, „das ist schön, weißt du, ich stell mir dann immer vor, ich wär ganz woanders, und alles Drumrum wär anders … das ist richtig, wie wenn ich in einem anderen Land wär, schön ist das … nun pass auf, jetzt kommen Stufen, genau sechs …“
„Nicht so schnell“, sagte Eluard und hielt ihre Hand fest. „Eins, zwei, drei, vier, fünf …“ – er tastete – „sechs … noch eine?“
„Nein“, sagte Lili ungeduldig, „jetzt bist du oben, komm weiter … du bist vielleicht ungeschickt …“
„Na ja“, sagte Eluard entschuldigend. Ihre trippelnden Kinderschritte gaben einen matten Widerhall, ein sanftes Patschen, das musste ein enger Korridor sein, hier …
„Jetzt sind wir an der Treppe“, sagte Lili, „jetzt geht’s ganz einfach, du brauchst nur immer die Wand anzufassen …“
Eluard tat es, er streckte den linken Arm aus und berührte die Wand, und da ging es aufwärts, immer im Kreis, das war die Wendeltreppe. Vor sich hörte er Lilis leichte Schritte, sie hüpfte im Dunkeln die Treppe hinauf, als wäre es gar nichts.
„Nicht so schnell“, protestierte er leise, aber sie hörte es nicht.
Immer im Kreis, ihm wurde ganz schwindelig. Ab und an tauchte ein blasses graues Geviert auf, das waren die Fenster, die Mauerdurchbrüche; obwohl die Nacht schon hereingebrochen war, war es draußen immer noch heller als hier drinnen, in dem engen, gewundenen Schlauch.
Auf einmal wusste Eluard nicht mehr, ging es nun aufwärts oder abwärts? Er achtete erschrocken auf seine Schritte, die Füße setzten sich irgendwohin, noch getragen vom Gleichmaß der stattgehabten Bewegung, und Eluard hielt die Luft an, für einen Augenblick schien ihm, er fliege, und dann stolperte er und stürzte auf die steinernen Stufen, es polterte ziemlich.
„Was ist denn los?“ rief Lili von weit oben. „Was machst du denn da unten?“
„Nichts weiter“, antwortete er schnell. „Es ist gar nichts.“
Lili kicherte. „Ich hab’s aber gehört, du bist hingefallen … hast du dir weh getan?“
„Nein, nein“, sagte Eluard, „es tut gar nicht weh …“ Das stimmte nicht, er hatte sich das Schienbein angeschlagen, es stach und summte ordentlich, aber das wollte er nicht zugeben, es war doch zu peinlich …
Es war wirklich finster hier wie – wie in der Kehle eines Riesen, ja, so hatte Lili neulich gesagt, Eluard tastete sich weiter, die linke Hand an der Wand, eine Stufe nach der anderen, er spürte die Schwärze hinter sich, vor allem hinter sich, und dann fiel ihm ein, wie Lili sich vorgestellt hatte, dass das immer so weitergehen würde, eine endlose Treppe, die sich immerfort nach oben wand, nach oben … wo man da wohl auskommen würde, wenn es immerfort nach oben ging? Eine Treppe bis in den Himmel, wer so etwas wohl bauen sollte …
„Ich bin oben“, rief Lili singend herunter, „ich bin oben!“
„Ich komm ja schon“, antwortete Eluard, „gleich …“ Und dann sah er über sich undeutlich die Falltür, ein verwischter Schatten wie die Seitenfenster, und in dem Schatten hockte ein dunklerer Fleck, das musste Lili sein.
„Bist du das?“ fragte er und tastete mit den Händen.
„Ja“, antworte sie, „he … pass auf …“ denn er hatte ihr ins Gesicht gegriffen, er konnte überhaupt nichts mehr sehen.
„Es ist so dunkel“, klagte er, „was hat das für einen Sinn, hier zu sein?“
„Och“, meinte sie, „ich kann gut sehen …“ Ob das stimmte? Vielleicht trieb sie auch einfach gern dahin in der Dunkelheit, blicklos tastend, befreit von den gewohnten Formen der Dinge, Eluard spürte, wie fremd alles, war, wenn man es nicht sehen konnte, die gleichmäßige Stufenfolge der Wendeltreppe wurde bewegt, fast organisch, trieb Buchten aus und Krümmungen, senkte sich unvermutet, wo es doch am Tage stetig aufwärts ging, auch die Stufen selber spielten Schabernack, waren mal hoch, mal niedrig, mal wichen sie dem Tritt ganz aus, dass man strauchelte und hinfiel, und wenn man tastend ausgriff, war da auf einmal das Gesicht eines kleinen Mädchens im Weg …
Lili fingerte in der Luft herum, dann fand sie Eluards Hand, und sie zog ihn hinauf in die Turmstube des Tischlers Bertram.
„Ist er nicht zu Hause?“ fragte Eluard.
„Nein“, sagte Lili, „dann wär Licht … er ist sicher unten. Jetzt komm, ich zeig dir was.“ Sie zog ihn hinter sich her, quer durch das Zimmer, aber jetzt tastete auch sie sich vorsichtig voran, das machte, der Tischler Bertram pflegte sein Gerät nicht immer an gleicher Stelle aufzustellen, da musste auch Lili aufpassen.
„Jetzt wart …“ sagte sie. Er hörte sie rumoren, dann öffnete sich in der Wand ein graues Viereck, Lili hatte einen der Fensterläden heruntergehoben.
„Komm“, sagte sie, „guck mal raus, wie schön das ist …“
Eluard trat neben sie, an die Fensterbrüstung, und schaute hinaus.
Draußen spazierte die Nacht, und dachte nach, über sich selbst. Da waren graue und schwarze Massen über das Land gebreitet, und schwerbäuchig weideten die Wolkenwale. Waren das dort Hügel, oder nur Ballen von Dunkelheit? Man konnte es nicht erkennen, ganz, ganz fern blitzte ein Licht, es funkelte und bewegte sich, da war jemand unterwegs, mit einer Laterne. Und unten standen die Bäume, in vielgegliederten Schattenschichten, darin wisperte der Wind, gelegentlich, und dann antwortete ein schwacher Sternenschimmer, da und dort zwischen den Wolken. Die Dunkelheit war ein weites Land, das hatte seine eigenen Wege und Kanäle, seine Gebirge und wandermüden Städte, und seine ausgedehnten, schwebenden Meere. Tiere glitten dahin in den hohen Gewässern, weiche schattenschwarze Tiere mit langsamen Bewegungen und klugen Gedanken, die warfen flüchtige Blicke auf die Beobachter im Turm und drehten wieder ab, mit sanftem Flossenschwung. Untermeerische Riffe und Atolle waren ihr Ziel, dort spielten sie, zwischen verborgenen Kuppeln und Minaretten, vielfältige Gebete wurden gesprochen, das Murmeln klang herauf als ein vielgewobener Teppich.
„Siehst du?“ fragte Lili. „Siehst du die Tiere?“
„Ja“, antwortete Eluard staunend, „ich seh sie.“
„Wenn ich groß bin“, sagte Lili, „dann nehm ich mein Boot und fahr dort hinaus, und ich werd nie nie wiederkommen.“
Es war ein Klang von Tränen in ihrer Stimme.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 08.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)