Es gab Unstrittigkeiten. Noch um die hundert Jahre vor den Geburten des Jungen hatte Geschichte gegolten als Geschichte der Großen Männer, die Großes gewirkt hatten. Großes, nicht unbedingt Gutes. Geschichte ist dort, wo die Musik spielt, hatte einer der Historienmeister versichert, und wenn die Kinder in der Schule ihre Geschichtsbücher aufschlugen, sahen sie sich in der erhabenen Gesellschaft von Königen und Kaisern, die die Geschicke „der Völker“ ordneten, gern mit dem Schwert, die Handhabung des Prügels und des Galgens überließen sie ihren Bütteln. Die Könige und Kaiser waren Frauen nur ausnahmsweise, um nicht zu sagen unfallsweise, im Normalfall saß ein Mann auf dem Thron. Die Völker waren anonym, gesichtslos, sie hatten keine Meinung, keine Stimme. Die Großen Männer machten, mit den Völkern wurde gemacht. Blödsinnige, aber altüberkommene Konstruktion. Man hörte in den alten Geschichten wunders viel erzählen von den übermenschlichen Taten der Helden, und in der Geschichtsschreibung wollte man hören von den Taten der übermächtigen Männer. Im Grunde war diese Form der Geschichtserzählung eine Fortschreibung der Sagenkündung am Lagerfeuer, oder am nächtlichen Kamin, Sage und Geschichte fielen zusammen. Der Kult der Großen Menschen durchherrschte auch die Literatur. Noch im Jahrhundert vor dem Unnachahmlichen waren Erhabenheit und Tragik auf der Bühne geknüpft an die hohen Menschen, die in Sphären weit über dem Volk sich bewegten, dem Volk, das in seiner Niedrigkeit sich des Lebens freute und durch die Gassen schob, das gleiche Volk, das noch der malle Alte und der Prägnante verachteten in nicht so sonderbarer Einigkeit. Das Volk durfte durchaus auf der Bühne auftreten: aber dann, damit das Publikum über es lache. Das Publikum, das für gewöhnlich aus eben diesem Volk bestand. Das Volk sollte und durfte über das Volk lachen. Die droben auf den Höhen der Menschheit waren die Tragischen und Erhabenen, die aus dem Volk waren die Komischen, sie stellten das Personal der Komödien. In den Tragödien, wo es um das Sublime ging, womöglich auch um das Schreckliche, agierten die Könige, mindestens die Edelleute. Selbst die Geschichtsschreibung der Künste und der Literatur folgte diesem Muster: oben die Aristokraten, die einsamen Schöpfer, tragisch in ihrer Erhabenheit, drunten die unkreative Masse. Ihr versteht das Muster. Pofel, dem nachher noch die Pferdeschnauzige folgen sollte, ich deute das jetzt nur an, muss noch darauf zurückkommen. Das Muster teilte säuberlich die Welt in zwei Stockwerke, im Oben wohnte die erhabene Tragik, unten die dumpfen, gern auch komischen Massen. Die dumpfen Massen konnten bestenfalls glotz nach oben schauen, aber wirklich verstehen die tiefen Gefühle da oben auf den Höhen, das konnten sie nicht, geschweige denn, dass sie diese Gefühle hätten teilen können. Genauso sah noch die Pferdeschnauzige ihre Wirklichkeit. Ihre Wirklichkeit teilte sich in diese zwei Sphären, diese zwei Stockwerke. Sie wohnte oben, in ihrer einsam unverstandenen Erhabenheit, in ihrer Tragik, unten hausten die Stoffel die Dumpfen, die das ja alles gar nicht begreifen konnten, das Erhabene. Statt oben und unten im Antagonismus der Klassen oder Stände zu verstehen, müsst ihr also einfach nur die Sphären zwischen Männern und Frauen aufteilen, und ihr habt die Taschendenke, die mit dem Weltverständnis der Pferdeschnauzigen zusammenfiel: oben, in schweifender Erhabenheit, die fühlenden Weibchen in ihrer Tiefe in ihrer Größe in ihrer Erhabenheit, unten die dumpfen Mannschweine, die nichts konnten, als plump grapschend zu fingern nach dem, was sie in ihrer Tumbheit nicht verstehen konnten, und die auf die Länge danach trachteten, das Unverstehbare das Unerlangbare zu zerstören. Die Weibchen, so die Taschendenke, waren die überlegene menschliche Lebensform, und weil die niedrige Form, nämlich die Männer, das wusste, trachteten die Niederen die Hohen zu unterjochen, um so die Bedrohung aus der Welt zu schaffen. Mit dieser Einsicht war, so die Taschendenke, das Movens aller Geschichte gefunden, der treibende Impuls hinter allem Geschichtswandel: aller geschichtliche Wandel resultierte aus dem immer erneuten Anlauf der Männer, gegen den niemals brechbaren Widerstand der Weibchen in den sich wandelnden Verhältnissen diese Weibchen unterjocht zu halten. So war die Taschendenke eigentlich nur die aus den Tiefen der Geschichte heraufgereichte Sagendenke, die die menschliche Welt nun nicht mehr teilte in Helden und tückisch auf Verrat sinnende Knechte, sondern in die sonnelichten Frauen und die nachtschwarzen Männer. Die Primitivität der Vorstellung sprach an die Primitiven und Undifferenzierten, aber in Wahrheit war das Denken der Menschen längst andere Wege geschritten, lange schon vor den Zeiten der Pferdeschnauzigen und des Jungen, lange selbst, bevor die eigentliche Taschendenke aufkam. Die Taschendenke hielt sich selber für Aufbruch und Neugründung, in Wahrheit war sie, wie die Stiefel- und die Mützendenke, ressentimentgeladener Affekt gegen das Neue gegen die Moderne, sie war antimoderne Revolte. Die Moderne suchte den Aufbruch in die Freiheit des Marktes, die Antimoderne Revolte suchte die Etablierung mythischer Gewissheiten, und ich habe euch geschildert, wie das ausging. Wo immer unter den Bedingungen der Moderne der Mythos sich installierte, starben die Millionen.
Unter der Herrschaft der Taschen starben sie schon im Mutterleib.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 07.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)