Finster

„Siehst du“, sagte Lili, „es wird bald finster …“

Finster … welch ein Wort, das war viel dunkler als bloß dunkel, darin waren Schatten, wie sie hausen unter nachtschweren Gewölben, oder auch ganz hinten in unbeleuchteten Korridoren, oder im Wald, im schlafenden Wald zur Mitternacht, wenn die Äste winken und jeder Stamm eine Gestalt verbirgt, gleich wird sie hervortreten und nach dir greifen, huh …

„Ja“, antwortete Eluard und blickte in den Wald des Innenhofes, „bestimmt rufen sie uns gleich, zum Essen.“

Sie saßen auf der Treppe, auf der Treppe vor dem Hautportal, und morgen früh würden hier die Wagen stehen und die Ochsen, Moses Maimon würde eingeschirrt sein, und viele Geräusche wären da, das Knarren der Wagen, hin und wider rufende Stimmen, Klappern von Gerätschaften und all das, und Eluard freute sich darauf.

Lili hielt ihre Puppe auf den Knien, bewegte winkend die Stoffarme, „Gerlinde wird euch nachwinken“, sagte sie. „Es tut ihr leid, dass ihr geht …“

„Wirklich?“ fragte Eluard.

„Ja“, sagte Lili, „sie wird oft an euch denken …“ Sie blickte mit abwesenden blauen Augen hinaus in den dunkelnden Wald. „Einfach so fortfahren werdet ihr, dort raus … hast du keine Angst?“

„Nein“, antwortete Eluard, „die Kaufleute sind ja bei mir, und die wissen alles, von den Wagen und den Städten … alles …“

„Ja“, sagte Lili. „Vielleicht kommt ihr auch zu den Bergen, die man von oben sieht … vom Turm aus mein ich … und wenn ihr dort seid, genau wenn ihr dort seid, werd ich an euch denken, dann geh ich hoch und schau hinaus, und du … denkst du dann auch an mich?“

„Ja“, sagte Eluard und meinte es so. „Wenn wir bei den Bergen sind, dann werd ich an dich denken.“

„Wie das wohl ist, da unter der Erde“, sagte Lili unvermittelt.

„Was?“ fragte Eluard.

„Na, da unter der Erde“, wiederholte Lili, „da, wo sie den Großvater Hamann begraben haben …“

„Ach so“, sagte Eluard, „ja, das weiß ich ja nicht … sie sagen alle, das merkt der jetzt sowieso nicht mehr …“

„Ja“, fiel Lili ein, „und hast du gesehen, wie der den Mund aufgesperrt hat? Also das hat vielleicht komisch ausgesehen!“ Sie lachte leise, mit heller Stimme. „Jeremias hat mal so geschlafen, weißt du, er hat dagelegen und den Mund ganz weit aufgerissen, das war ’n richtiges schwarzes Loch, und der Halbord, der hat ihm einen dicken Stein reingelegt …“

„Haha“, lachte Eluard.

„Ja, einfach reingelegt, wie in eine Kiste, haha, und dann, haha, hat er ihm den Mund zugeklappt, wie ‘nen Kistendeckel …“

Sie lachten ausgiebig.

„Na und dann?“ fragte Eluard.

„Pffh“, machte Lili und zuckte wegwerfend die Achseln, „dann ist er aufgewacht, der Jeremias, mein ich, und hat angefangen zu heulen, wie immer … er heult immer, blöd ist das …“

„Ja“, sagte Eluard.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 04.07.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)