Als vordringlich empfand es die neue Generation der Frauenforscher, endlich den so lange benutzten Begriff der Unterdrückung zu klären. Von Herrschaft war zu reden, von Macht und Einfluss, von Konsens.
Menschliche Gesellschaften sind allgemein Konsensgesellschaften, das habe ich schon mehrfach dargelegt. Auch in der Konsensgesellschaft gibt es Unterdrückung, aber Unterdrückung gewöhnlich nur der Minderheiten, derer, die nicht mitmachen, nicht mitmachen wollen oder nicht mitmachen dürfen, Unterdrückung der Falschen durch die Richtigen. Aber Unterdrückung der Mehrheit? Nur, wenn die unterdrückte Mehrheit mitmacht und sich das gefallen lässt. Auf dem Kontinent des Jungen hatte es immer wieder Aufstände der Bauern gegeben, gegen die Steuern, gegen die Bevormundung. Die Bauern stellten in den alten Zeiten, will sagen in den Jahrhunderten vor den Geburten des Jungen, die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung, und dennoch waren die Aufstände regelmäßig erstickt. Nicht unter der Übermacht der bewaffneten Büttel. Sondern weil die Aufständischen nicht die Unterstützung hatten der Mehrheit derer, deren Sache sie doch zu vertreten behaupteten. Kam es zur finalen Auseinandersetzung, standen den obrigkeitlichen Soldaten stets nur mit Dreschflegeln ausgerüstete Haufen gegenüber, deren Berechtigung, sich Bauern zu nennen, zweifelhaft war. Zumeist handelte es sich um Zusammenrottungen von davongelaufenen Knechten und städtischen Halunken, die das Abenteuer suchten. Eine kollektive Erhebung wirklich der gesamten Bauernschaft hätte keines der alten Regime durchgestanden, in denen lebten durchweg fünfundneunzig von hundert Bewohnern auf dem Land, nicht in den Städten. Will sagen, die Aufstände brachen zusammen, weil ihnen die weit überwiegende Zahl der Landbewohner ganz einfach die Unterstützung versagte, und wieder die Hälfte der Landbewohner waren Frauen.
Das konservative Element?
Was dachten die Frauen?
Wenn der Bauer sich entschloss, am Aufruhr teilzunehmen, sagte die Frau ihm dann, genau, Mann, mach mit, oder sagte sie eher: Bist du blöd, Alter? Übel wird das ausgehen, bleib zu Hause, das Dach muss frisch gedeckt, die Ernte eingebracht werden!
Die Taschen hatten sich das ganz einfach vorgestellt. Wenn wir das Frauenleben alter Zeiten erforschen wollen, müssen wir einfach in die Tasche schauen, nicht in die Wirklichkeit. Das war der große Gedanke gewesen. Wir brauchen keine Wirklichkeit. Was soll uns die Wirklichkeit? Wir müssen einfach nur in der Tasche kramen.
Was hatten sie gefunden in ihren Taschen? Was sie vorher hineingesteckt hatten. Nun wusste der Junge, wie alle Männer, das große Rätsel des Frauenlebens zu allen Zeiten ist, dass die Frauen Dinge in ihre Taschen stecken, und diese Dinge dann nicht wiederfinden. Sie fangen an zu kramen und finden tausend Sachen, von denen sie schwören, nie hab ich das reingesteckt. Was sie suchen, finden sie nicht, und was sie finden, danach haben sie nicht gesucht. Nun ja, irgendwie Menschenlos, geht es den Männern so viel besser? Aber die Frauen können über den Inhalt ihrer Taschen in Tränen geraten, die Reaktion der Männer schwankt dann zwischen Erbitterung und Belustigung und dem Bedürfnis, das weinende Wesen zu trösten. Die Erbitterung hat gewöhnlich etwas damit zu tun, dass sie in der Konfusität der Frauen eine eigene Möglichkeit entdecken, über die sie nicht nachdenken mögen.
Was die taschenbewegten Erforscher des Frauenlebens alter Zeiten in die Taschen hineingesteckt hatten, ist gesagt in wenigen Worten. Zwei Vorstellungen, zwei sauber verschnürte Päckchen, deren Inhalte nicht vermischt werden durften. In dem einen Päckchen lag aufbewahrt die Vorstellung von den unterdrückten Frauen, deren Leben die Geschichtsforschung endlich der Unsichtbarkeit entreißen musste, in dem anderen die Vorstellung von den unterdrückenden Männern, die alle Geschichte bisher erst gemacht hatten und dann selber geschrieben.
Zwei Vorstellungen zwei Päckchen zwei Gewissheiten.
Das ist drin in unseren Taschen, sagten die Taschenschwingerinnen mit großer Befriedigung, und so müssen fortan die Dinge gesehen werden.
Die große Befriedigung war vor allem eine einfältige Befriedigung, Perspektivenwechsel war gefordert und auch vollzogen worden, aber wie immer bei den Unternehmungen des Menschtieres kam zum Schluss nicht das heraus, was man erwartet hatte.
Die Männer, lehrten die Taschen, haben sich selber immer als das Normgeschlecht angesehen, und die Frauen als das abgeleitete, das niedrigere, das schwächere Geschlecht. Das unfähige Geschlecht, das der Anleitung bedürfe. So haben sie das gesehen, die Männer, und so haben sie auch gehandelt, und so haben sie hinterher ihre Handlungen beschrieben. Immer.
Daran war alles richtig, und alles falsch.
Auch hier hatte in der Geschichte der Konsens gegolten. Der Frauen waren viele, Hälfte der Menschheit, Erzieher der Kinder, und sie hätten nicht niedergehalten werden können, wenn sie sich entschlossen gewehrt hätten. Hatten sie aber nie getan, und die Männer waren auf die Unterdrückung der Frauen gar nicht so erpicht, sie fingen gewöhnlich dort an zu befehlen, wo die Frauen sie ansahen und auf Befehle warteten, und sie hörten dort nicht auf zu befehlen, wo die Frauen sich fügten. Hör auf, dir von mir die Nase putzen zu lassen, sagten die Mütter zu ihren Söhnen. Du bist ein Mann, und von einem Mann wird erwartet, dass er selber für sich sorgt. Wenn du dich nicht um dich selber kümmern kannst, wie willst du dich nachher um eine Frau kümmern? Um deine Familie? Du bist ein Mann, und ein Mann weiß, was er will. Also.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)