Leichenpredigt

„Also was ist jetzt, Dietrich?“ fragte Elisabeth. „Kommst du? Alle sind versammelt.“ Sie war hinzugetreten zu Lydias Grab, Dietrich stand dort ganz alleine; von ferne, zwischen den Bäumen, drang Raunen und Murmeln herüber, dort warteten sie, die Bewohner des Hauses, rund um das offene Grab, dass der Hausherr komme und dem armen alten Großvater Hamann einige Worte mitgebe, bevor er zugeschaufelt werde …

„Ja doch“, sagte Dietrich und schrak hoch, er blickte in Elisabeths Gesicht, ob sie wohl etwas von seinen Gedanken ahne, er fühlte sich schuldbewusst, ha, dachte er, da ist es wieder, das Wissen, ich bin schuldig, schuldig sind wir alle, oh, groß wird die Sühne sein müssen, groß und unerhört …

„Ich komme“, sagte er dann, und Elisabeth schritt voran, und er folgte ihr.

Da standen sie alle, im Kreis um die Grube, an einigen Stellen mussten sie sich zusammendrängen, weil die Kastanienstämme im Weg waren, aber sie fanden alle Platz, und schauten erwartungsvoll.

Das Grab war nicht tief, nicht viel mehr als zween Ellen, und die lockere Walderde, der Aushub, lag aufgehäuft zur linken Längsseite. Durchsetzt war er von Gewurzel, mit scharfem Spaten und Hacken hatten die Männer graben müssen, und war erst die Erde wieder geschlossen, würden die Baumwurzeln sich herantasten, erneut, ausgreifend nach der nahrhaften Stelle, sie würden sie fühlen, von Weitem …

Der Großvater lag auf seinem Brett, rechts neben der Grube, auf den Querhölzern. Er hatte eine seltsam bleigraue Farbe angenommen, fast, als wäre er mit Kalkstaub bedeckt, und sein Mund stand nun weit offen, die Träger hatten, als sie das Brett abgesetzt hatten, rituell die Schlinge um seinen Kopf gelöst und sie auf seine Brust gelegt, gemächlich war der Unterkiefer heruntergesunken und hatte sich etwas zur Seite geklappt, und der Großvater sah jetzt aus wie ein Kind, das den Kopf in den Nacken wirft und den Mund weit aufsperrt, um die Regentropfen oder die Schneeflocken zu trinken …

Die Träger schoben zwei lange Seile unter dem Brett durch, um bereit zu sein, wenn Dietrich das Zeichen gab.

Dietrich räusperte sich, und ringsum schwoll das Füßescharren und Murmeln für einen Augenblick an und erstarb dann. Dietrich trat nahe heran an das Fußende des Grabes, schaute hinein in die feuchte Höhlung, schwarz war sie und bereit aufzunehmen.

„Sind wir also versammelt, ihr Lieben“, begann er, „zu begraben und beizusetzen. Ja, ist’s nicht also immer unser Los, wie Vautrin es bestimmt? Ist ein gar gewaltiger Herrscher der Tod über der Welt, und kommt er und nimmt er, wie‘s ihm gefällt, ist gering unsere Macht. Und geht jede Stunde dahin, schaun wir, begreifen‘s nit, ja, lieben Brüder und Schwestern, geht dahin und verrinnt, und ist sie anheimgefallen dem Tod, der ist ein gar starker Rachen vor der Welt und ein Schlund, der alles verschlingt.

Und ist also dahingegangen unser Bruder Hamann, den hat sich der Tod geholt als seine Frucht und Nahrung, wir konnten‘s nicht hindern, denn gar groß ist unsere Schwäche, und zaghaft der Mut. Hat uns also verlassen der Bruder Hamann, und geht er dahin zu den Wurzeln der Bäume, dass gelöset werde das Fleisch. Und ist da das Fleisch so strotzend und mutig, und dünkt sich stark, seht, ‘s wird doch vergehn, und ist keine Hilfe noch Rettung. Ja, vergebens, wer sich da klammert an’s Fleisch, denn vergehn wird alles, und wird eine Nahrung sein den Würmern. Ha! wird die Verwesung kommen, und der feuchte Schleim, da gibt’s kein Halten, werden nur grinsen bald die blanken Knochen, und ist ein gar armseliger Rest, lieben Brüdern und Schwestern.

Wie kömmt‘s nun, dass das Fleisch ist so gar schwach? Bestimmt hat’s Vautrin dem Tode, dass wir die Schwäche recht erkennen. Und warum sollen wir die Schwäche recht erkennen? Nun, gewollt hat Vautrin, dass wir sehen die rechte Tugend der Dinge und was Bestand hat unter der Sonne. Ja kann denn das das Fleisch sein, lieben Brüdern und Schwestern, wo’s doch so schwach ist? Nein, sag ich euch, nein, und nochenmals nein. Ist nicht das Fleisch. Das Fleisch, das stinkt und vergeht, sieht’s auch so strotzend noch aus und prahlt mit seiner Stärke, nein, es ist das Haus, das Bestand hat.

Staunt ihr und hört mich recht.

Ja, das Haus das steht und gibt das Leben, und hat jeder seinen rechten Platz darin und weiß um seine Stellung. Und ist die Liebe, die gibt jedem seinen rechten Platz und dass er’s weiß. Und kömpt die Liebe von Lydia, die war unser aller Mutter und hat das Haus gegründet nach Vautrins Willen, und es steht das Haus, und gibt jedem seinen Ort darin, dass er wisse, wer er sei.

Und ist es das Haus, das gibt jedem die Kraft, und siehe, geht er dahin, bleibt doch die Kraft, und kann nachrücken ein anderer, das ist die große Tugend und Kraft des Hauses und sein Geheimnis, das ist uns kundgetan und geoffenbart in unseren Herzen, dass wir wissen den Willen Vautrins.

Und darum dass wir sollen nicht trauern unnütz und uns grämen um diesen einen, denn ist stark das Haus, und hat uns Vautrin geschlagen, ist’s sein Wille und jauchzen wir drum. Ja! jauchzen wir, dass es Vautrin gefallen hat uns zu schlagen und hinzugeben der Wohltat seiner Strafe, denn desto stark werden wir erhöhet werden, lieben Brüdern und Schwestern, erhöhet in Vautrin! Denn groß ist die Gnade Vautrins, und hat er uns gezeigt in seiner Gnade Lydia selbst, wie sie wandelt im Hause, auch wenn welche sind unter uns, die‘s nicht glauben wollen, oh wie arm müssen sie sein, dass sie’s nicht glauben wollen, oh wie verblendet müssen sie sein, dass sie’s nicht glauben wollen, haben wir Mitleid mit ihnen, lieben Brüdern und Schwestern, ja, gelte unsere Liebe ihnen besonders, den Traurigen den Ungläubigen, Liebe, Liebe, Liebe! dass ihnen die Augen geöffnet werden und sie sich demütigen und sagen, ja sehet, erschienen ist Lydia den guten Frauen den gläubigen, am Tage nach Großvater Hamanns Tod, und groß sind die Wunder Vautrins.

So werden sie sagen, und groß ist ihre Zerknirschung.

Nun gehet aber hin, ihr guten Männer, und senket hinunter den Großvater Hamann hinab in sein Grab.“

Er trat einen Schritt zurück, und die vier Männer hoben das Brett mit dem toten Alten empor an den Stricken und trugen es ein Stück weg von dem Grab, so dass sie, jeder ein Strickende in der Hand, das Brett über die Grube tragen konnten, je zwei von ihnen an jeder Seite stehend.

Dann ließen sie den Großvater Hamann hinab, und die Stricke ließen sie hinunterfallen, wie es Brauch war, gleich Schlangen lagen die nun über dem reglosen bleichen Körper dort unten.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)