Lydias Grab

Lydias Grab, und ein Schauer der Ehrfurcht überlief Dietrich. Wie lange schon stand es da, beschattet von den Kastanien, und überschüttet im Herbst von der rotgoldenen Flut der ersterbenden Blätter, und schlafend im Schnee des Winters. Viele Hände hatten schon gearbeitet an dem Grabmal, besserten aus und flickten, wenn der Frost die Platten gesprengt hatte, entfernten das Moos vom Sandstein der Säule, räumten beiseite Blätter und Äste. Und Dietrich war der Hausherr, der das Grab in Acht hatte, und würde es hüten und pflegen und treulich weitergeben an seinen Nachfolger, und dieser wieder an den seinen, nie würde das Andenken Lydias vergessen werden unter den Bewohnern des Hauses.

Lydia …

Und Dietrich seufzte, ein seltsames Gefühl der Hingezogenheit überkam ihn, als ob er anbeten wolle, sich auf die Steinfliesen werfen vor dem Turm und sich demütigen, ja, demütigen vor der heiligen Frau, ihrer übergroßen Heiligkeit …

Es durchzuckte ihn als ein Blitz der Erkenntnis, ja, dachte er, niedrig bin ich und klein, bestrafen muss ich mich, damit sie mich annimmt, und wenn ich mich bestrafe vor ihr und recht zugebe meine Kleinheit, dann wird sie mich annehmen, und ich werde sein in ihrer Welt, nicht mehr widerstehen werde ich der Wahrheit, dass ich niedrig bin und gänzlich verworfen …

Und war da ein gleißendes Bild vor seinen Augen, das zeigte ihm, was er tun müsse, ausgehen würde er des Nachts, da alles schlief, und sich hinwenden zu dem Grab der heiligen Frau und sich dort entkleiden ganz und gar und sich auf die Steinfließen werfen, nackt, und … er schluckte, und dann drang er durch zu seiner Wahrheit: und ja, sich peitschen würde er, peitschen seinen nackten Körper, mit Stricken, die er sich mitbringen würde, Stricken, in die er würde Knoten eingeflochten haben, dass sie recht peitschten den niedrigen den sündigen Leib …

Und da er dies dachte, begann sein Herz zu rasen, und entstand eine wilde Glut in seinem Bauch, das ist die Liebe, dachte er mit fliegendem Atem, und dann schoss die Glut hinein in sein Mannesglied, dass es sich zu steilen begann, und mit fliegendem Atem und zusammengebissenen Zähnen dachte er: das ist meine Unwürdigkeit, das ist die Lust, peitschen werde ich meinen nackten Körper, bis sie hinausgetrieben ist, die Lust, und dann war Schwindel in seinem Kopf, und übergroße Erregung, er konnte es kaum erwarten, heute Nacht noch würde er es tun, ja, am liebsten hätte er es gleich gemacht, hier auf der Stelle, sich die Kleider vom Leib gerissen und sich recht gedemütigt, aber das ging nicht, da waren die Träger mit dem Leichnam des Alten, und kamen die anderen alle, sie würden ihn hindern, natürlich, aber wenn er es getan hatte, allein, zur Nacht, seine Schmach und übergroße Niedrigkeit dargeboten Lydia, ja, selbst sein gesteiltes Glied sollte sie sehen, damit sie recht erkenne, wie niedrig er sei, und strafen würde er sich, ah, strafen, bis das Blut floss, aber wenn er es getan hatte, dann würde ihre Gnade ihn umfangen, er war dann ja bestraft, und freudig hätte er die Strafe angenommen, würde sich öffnen der Strafe, ja, bitten um mehr, finden, dass sie noch zu gering sei, die Strafe, und wenn es geschehen war, dann würde er predigen können, das fühlte er, würde predigen dem Haus, oh, er blickte hinaus auf eine neue Welt, die tat sich ihm auf, da war die Rede von Schuld und Untat und Niedrigkeit … und dann Vergebung, jaja, aber vor die Vergebung war die Strafe gesetzt, und immer wieder die Strafe, es konnte gar nicht genug geben der Strafe, gar nicht genug der Demütigung, der Verwerfung, damit die Schuld, die übergroße Verworfenheit recht gesühnt werde, immer wieder, oh, niemand wusste ja von dieser Niedrigkeit, sie war der Schatten, die Finsternis über der Welt, und welch jauchzende Erlösung kam dann mit der Strafe, endlich, endlich bestraft werden, war man doch so niedrig, so unwert, so durch und durch unwert, dass kein Begreifen hinunterreichte in diesen Abgrund … und wenn dann klatschend fielen die Schläge, wie wäre der Druck genommen von der Seele, immer hatte sie es gefühlt, dass sie kein Recht hatte zu leben, dass ihr ganzes Sein Unwert war, und jetzt endlich wurde diese Wahrheit sinnfällig, endlich Bestrafung, endlich die Wahrheit ins Rechte gesetzt, oh über die Erleichterung, die Erlösung, dass endlich die freche Schuld ihre Sühne fand …

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 22.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)