Wenn ihr euch also bei irgendeiner irren Erdenkung des Menschtiers sagt: Das können die doch unmöglich selber glauben – so wisst: recht habt ihr. Sie glauben es selber nicht. Umgekehrt proportional zu ihrem Unglauben wächst ihre Bereitschaft, dem nicht mitglaubenden Menschtier den Schädel einzuschlagen. Das Menschtier, das zweifelt, oder verdrossen sagt: Oh, ich weiß noch nicht, ich hab keine Ahnung, dies Menschtier schlägt niemandem den Schädel ein. Welch Menschtier aber setzt die Lehre von Unterdrückung und Befreiung, greift im Augenblick der Setzung auch schon nach dem Knüppel.
Ein bisschen Befreiung hätten die Frauen schon vertragen können. Nur nicht unbedingt die Befreiung, die die Hocherweckten meinten. Befreiung viel eher von dem Problem, das ganz allgemein das Problem des Menschtiers ist, seine Neigung zum Mitmachen nämlich. Den Weibchen des Menschtieres gefällt es noch ein bisschen mehr als den Männchen, mit dem Strom zu schwimmen, soweit das überhaupt möglich ist, und in diesem Punkt hatten die Taschen allerdings recht, wenn auch auf ganz andere Weise, als sie dachten.
Frauen waren tatsächlich überall dabei, wenn es um die Unterdrückung ging. Scharf beobachtet von den Taschen. Überall, wo das Menschtier seinen mörderischen Unfug betrieb, waren Frauen dabei. Mitmachend und anfeuernd.
Erinnert euch an die Fotos, die dem Jungen in seiner Schulzeit solche Übelkeit verursacht hatten. Eine Falsche war auf dem Marktplatz des anmutigen kleinen Städtchens zur Strafe für ein stiefelwidriges Vergehen kahlgeschoren worden, und dann hatte sie so sitzen müssen, auf einem Podest inmitten des Marktplatzes, ein Schild haltend, auf dem zu lesen stand: Ich bin ein Volksschädling. Auf den Fotos war die zuschauende Menge zu sehen. Die Menge schaute nicht nur zu, sie lachte. Sie verhöhnte die Angeprangerte. Ganz vorne in der Menge standen Frauen, in ihren Sonntagskleidern. Hütchen auf dem Kopf, wie man es damals hatte. Die Frauen lachten.
Ich sollte nicht vergessen zu erwähnen, dass der Junge das besagte Podest noch kennenlernen sollte. Es war städtisches Eigentum, schon vor der Anprangerung gewesen, für die Anprangerung zur Verfügung gestellt worden, es überlebte den Untergang des Stiefelimperiums, und tat treuen Dienst bei allen möglichen Gelegenheiten, da die Gemeinde eben ein Podest benötigte: bei Volksfesten, bei Feiern, bei Ehrungen. Zur Hundertjahrfeier der örtlichen Feuerwehr wurde es erneut auf dem Marktplatz des Städtchens aufgebaut, der Oberbürgermeister hielt eine Rede, das Podest war blumengeschmückt und efeubekränzt, der Junge stand am Rand der Menge, weil seine süße runde Brünette unbedingt dem Ereignis beiwohnen wollte, es interessierte sie wenig, was der Bürgermeister zu sagen hatte, vielleicht wusste sie nicht einmal, worum es bei der Feier ging, sie wusste nur, da ist Fest und Remmidemmi, da ist eine Gelegenheit, ein hübsches kurzes Kleidchen anzuziehen, viel nackte Haut zu zeigen, da ist alles schwarz von Menschen, und alle Menschen würden sie sehen, sie in ihrem hellen Kleidchen und mit ihren runden braunen Augen, sie mit ihrem Jungen an der Hand, und der Junge fühlte sich kotzelend, erstens, weil er die süße runde Brünette nicht leiden konnte und dennoch mit ihr zusammen war und sich dafür hasste, und zweitens, weil er noch mehr als seine Schwäche die Menschansammlungen hasste. Er liebte die Menschen sowieso nicht, welchen Grund hätte er auch haben sollen, und Zusammenrottungen waren ihm erst recht ein Gräuel. Also war ihm übel. Das waren jedenfalls die Gründe, die er sich selber zusammenreimte. Von dem wirklichen Grund seiner Übelkeit wusste er nichts: das Podest war noch immer dasselbe, auf dem drei Jahrzehnte zuvor die Falsche die Rassenfremde öffentlich gepeinigt worden war, bevor man sie abtransportierte, die kam dann weg, lautete die Sprachregelung, und die Zuschauer waren ähnlich aufgekratzt gewesen, wie sie es heute waren, am Tag der bürgermeisterlichen Ansprache. Überall Frauen in der Menge, und nicht eine wirkte unterdrückt. Die oben auf dem Podest, damals, die war unterdrückt gewesen, und unten hatten die Frauen zugeschaut und gelacht, und dreißig Jahre später war einem Jungen auf demselben Platz übel, ohne dass er sich den Grund seiner Übelkeit treffend zu deuten vermocht hätte.
Hätten die Weibchen auf dem Platz, am Tage der Anprangerung, mit kalter Empörung reagiert auf das Verbrechen, hätten sie ihre Männer ihre Empörung spüren lassen, hätten die Männer gewusst, wenn wir so etwas tun, hassen uns die Frauen, hassen uns unsere Mütter unsere Schwestern unsere Frauen unsere Großmütter – wäre das Verbrechen dann geschehen?
Ja, aber die Frauen haben dem Verbrechen nur deshalb zugejubelt, wussten später die taschenbeschwingten Befreierinnen, weil sie von den brutalen Männern dazu gezwungen worden waren! Immer sind die Frauen zu solchen Sachen gezwungen worden!
Wer sollte so etwas glauben?
Vielleicht der Junge? Wie stand es mit seiner Macht als Mann, irgendeine Frau zu irgendetwas zu zwingen? Die Pferdeschnauzige? Die Grimmvettel? Er war froh, das nackte Leben aus den Klauen der Hexen gerettet zu haben. Und später, als er alt war? In seiner Wohnung war keine Frau. Und wäre eine darin gewesen, und er hätte angefangen, sie zu unterdrücken, was hätte sie getan? Hätte die Achseln doch wohl gezuckt, und wäre zur Tür hinausgegangen, auf Nimmerwiedersehen.
Erschließt sich mir nicht, dachte er, die Sache mit der Unterdrückung.
Wiewohl, er verstand die abgründige Durchlogenheit der Taschendenke, und er wusste, im Augenblick, da die Pferdeschnauzige ihn zusammengeschlagen hatte, spuckend nach dem wehrlosen Kind tretend, das am Boden lag, wäre da eine Tasche zugange gewesen, die hätte vorrechnend das Ereignis recht zu deuten gewusst, dass nämlich in diesem Augenblick er, der Mann, irgendwie derjenige gewesen sei, der Gewalt ausgeübt hatte, gegen die Pferdeschnauzige, gegen seine eigene Mutter! Hatte sie mit seiner systemisch-patriarchalischen Männermacht dazu getrieben, so zu handeln, dass ihr gar nicht anderes mehr übrig geblieben war! Hatte sie schuldhaft veranlasst zu solchem Tun!
Nun, das hatte ja die Pferdeschnauzige schon „so“ gewusst, auch ohne Beihilfe durch die Taschendenke. Zu sowas treibt mich der Bengel! Ich hatte es tun müssen, der wäre sonst geworden wie sein Vater! Der ist über mich gekommen! Das ist über mich gekommen! Ich wusste mir ja gar nicht mehr zu helfen! Auf einmal war da die Situation, schuldhaft von dem verursacht, ich wusste gar nicht, wie mir geschah, das kam alles einfach so über mich, und der hat das gemacht! Ich bin unschuldig, der Bengel ist schuldig! Weil der ein Mann ist! Deshalb ist der so! Ich musste mich doch wehren!
Nur eine Frau kann das verstehen, versicherten die Taschen. Deshalb muss den Frauen zugehört werden.
Das nun wieder kannte der Junge, denn das wollten die Frauen immer, dass ihnen zugehört werde, sie wollten reden und angehört werden, das hatte die schon die süße runde Brünette getan, hatte geplappert und geplappert an seiner Seite, und an unvorhersehbarer Stelle hatte sie den Redefluss unterbrochen und sich beschwert, ganz unvermittelt: Du sagst nie etwas! – worauf der Junge, verwirrt und ertappt, denn seine Gedanken waren längst eigene Wege gegangen, hilflos geantwortet hatte: Ich wollte dich nicht unterbrechen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)