Der Weg verbreiterte sich etwas, die Träger konnten nun bequemer laufen, und dann begann es zu regnen. Es fielen erst einzelne leise Tropfen, die Leute fühlten sie, auf der Hand, oder auf dem Kopf, und dann blickten sie um sich und zum Himmel hoch und dachten, „na, ich habe mich wohl geirrt“, wie das die Menschen eben so machen, wenn es zu regnen beginnt, und dann fielen die Tropfen stärker, blaugrau waren sie, und wurden durstig aufgetrunken vom Wegstaub, und es begann zu riechen nach nasser Erde, wie nach einem Sommergewitter …
Die Tropfen fielen auch hinunter auf den nackten Großvater, wie er da lag auf seinem Brett, die Hände über dem Bauch gefesselt, und zuerst rannen sie von der toten Haut ab wie Wachs, aber dann blieben sie da und dort hängen, in Falten und Winkeln, in den Augenhöhlen, im Nabel, zwischen den Fingern, in den eisgrauen Schamhaaren, dort glitzerten sie, und bald war auch der Großvater nass, aber er spürte ja nichts mehr davon.
Dietrich drehte sich um und sagte zu den Trägern: „Gehen wir etwas schneller“, und die Träger nickten, ohne Begeisterung. Dietrich schritt kräftiger aus, er trug einen Wanderstab in der rechten Hand, groß war der, wohl ebenso hoch wie Dietrich selbst, und Dietrich hatte gar keinen rechten Grund gehabt, ihn mitzunehmen, er fand nur einfach, es sehe würdig aus, wenn er da so vorwegschreite mit einem Stab wie der Schäfer vor seiner Herde, ja, würdig, das war das Wort.
Und Dietrich schritt aus, und die Träger schritten aus, aber die Schlange kam nicht nach, sie hatten es wohl nicht so eilig, warum auch, angenehm war ja der Regen, die blauen Perlen, und so schön war es, müßig auf die Felder zu schauen, auf die leicht gewellte Landschaft, und über dies und jenes zu plaudern, ohne großen Sinn und Zweck, Vautrin hatte einen halben Tag der Mühe und der Arbeit geschenkt, das hatte man nun dem Großvater Hamann zu verdanken, ja …
Eluard blickte sich um nach dem Haus, dort hinten lag es, zwischen den Hügelwellen, weiß glänzte die Umfassungsmauer in den sachten Regenfahnen, schön war der Anblick, und doch fühlte Eluard sich auf einmal froh und leicht, ihm entronnen zu sein, den freien Himmel über sich zu haben … er spürte, wie der Wind ihn umfing, der Regenwind, und sah die Kräuter und Gräser blinken in der Nässe, und er fühlte wieder, dass er fort wollte, nur fort, in die Unendlichkeit der Wege, verfolgen die Wälder und Länder, die hohen Fernen hinter den Bergen. Mit einem Male verstand er, warum die kleine Lili immer hinaufstieg in das Turmzimmer zu dem Tischler Bertram und in die Weite spähte, hinüber ins Blaue, zu den Bergen … sie war ja eingesperrt in dem Haus, eingesperrt, das Haus war ein dichtes Netz, an dem die Bewohner woben fort und fort, und waren doch selbst darin gefangen, und legten die Schlingen umeinander, da zappelten sie.
Lili schritt ernsthaft den Weg entlang, die Puppe an ihre Brust gedrückt, und sie sah sich nicht um nach dem Haus. Manchmal blinzelte sie, wenn ihr ein Regentropfe ins Auge sprang.
Bald sind wir fort, dachte Eluard, ja, heute noch müssen wir Geduld haben, so hatte es Inge versprochen, dann würde das Rad sich wieder drehen, die Ochsenköpfe würden nicken über dem Weg, dem Weg, die Plane schaukeln über dem knarrenden Wagenboden.
Vorne hatte der Kopf der Schlange den Kastanienhain erreicht, den Heiligen Wald, die Begräbnisstätte.
„Wartet einen Augenblick“, sagte Dietrich zu den Trägern, und sie blieben stehen, und Dietrich schaute aus nach den Zurückgebliebenen, sie waren noch weit hinten auf dem Weg, beeilten sich auch nicht, trotz des Regens, sie wollten das Begräbnis des Großvaters Hamann feiern mit Ruhe und Gelassenheit.
Dietrich seufzte.
„Gehen wir vor zum Grab“, sagte er, „und warten wir dort.“ Und die Träger nickten unter folgten ihm, denn sie hatten des Vortages bereits die Grube ausgehoben, in die hinein der tote Großvater gebettet werden sollte, auf seinem Brett.
Und grüne Dunkelheit war unter den Kastanien, und drang der Regen nicht durch, zu dicht standen die vielfingrigen Blätter. Es gab auch kaum Unterholz, einige wenige Kräuter nur gediehen, so war der Hain ein hohes, flüsterndes Gewölbe aus leuchtendem Grün, auf dem murmelte der Regen, und waren braune Säulen die Stämme, vor ferner Helligkeit. Eine Säulenhalle der Wald.
Und überall am Boden, zwischen den Stämmen, waren Gräber, aufgeschichtete Steinhaufen, von unterschiedlicher Größe. Hier ruhten die Toten, die Toten des Hauses.
Dietrich sah sich um, mit feierlichem Ausdruck, ja, dies war die Stätte, der Ruhe, der Sammlung … ganz leise rauschten die Kastanienblätter, beschatteten schwarz die Grabhügel, im Schutz der Säulenstämme, umherwandeln konnte man zwischen ihnen, sich ergehen, genießen der Ruhe der Gedanken …
Manche der Gräber waren schon stark eingesunken, andere noch steil und hoch, viele Generationen lagen hier, und erhielt jeder einen Hügel aus Flusssteinen. Und in der Mitte des Haines, da lag ein Grab, ausgezeichnet vor allen anderen: nicht einfach war ein Hügel aufgeschüttet aus Steinen über ihm, nein, plattiert war seine Fläche, mit poliertem dunklem Stein, sorgfältig verfugt, mit bindendem Mörtel, und am Kopfende erhob sich mannshoch eine Art Turm, gemauert, in den war eine Platte eingelassen, die zeigte ein menschliches Antlitz, ein Frauengesicht war eingemeißelt, mit feinen, unpersönlichen Zügen, und das war Lydia.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 20.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)