Grablege

Bresthaft ist das Leben des Menschen von Anbeginn; mühsam kriecht es seinen Weg, empfängt etwas Lust, mehr des Leides, fährt schließlich dahin, und keiner weiß die Stunde.

Gemächlich nahm der Trauerzug seinen Schritt durch die Felder, auf dem Weg zum Kastanienhain. An der Spitze ging Dietrich, mit ernstem Gesicht, und folgten ihm vier Männer, die trugen in angestrengt klammernden Fäusten zwei schwere Querhölzer, darauf lag das Brett mit dem Alten.

Man hatte ihm Hände und Füße zusammengebunden, damit sie beim Schaukeln und Rütteln des Weges nicht seitwärts hinunterglitten, und so hielt er denn leidlich zusammen, der Großvater Hamann, auf seiner letzten Reise, nur der Kopf mit der spitzen Nase schwankte und zitterte, ein dünner Strick, geführt über die etwas schuppige Glatze und verknotet unter dem Kinn, hielt geschlossen den toten Mund, dass er nicht Schreie ausstoße zur unrechten Zeit.

Sie trugen ihn mit den Füßen voran, so hätte er sehen können, wohin es ging, wenn er noch am Leben gewesen wäre.

Hintennach folgte der Trauerzug. Sie gingen in großen Abständen, die Hausbewohner, und immer nur zwei oder drei nebeneinander, denn der Weg war schmal, und so bildeten sie eine gemächliche Schlange, mit Dietrich und den Leichenträgern als Haupt und Sinn.

Der Himmel hatte sich zugezogen, dicht war die Wolkendecke, von zartem Grau, und das Grau spiegelte sich in der fahlen Altmännerhaut des Großvaters Hamann, die war runzelig und trocken und voller Falten, würde dankbar empfangen die Feuchtigkeit der schwarzen Erde, dass Leben sich entwurzele der Dürre.

„Es wird gleich anfangen zu regnen“, sagte der Tischler Bertram, in der Mitte des Zuges ging er, und Lili und Eluard folgten ihm nach. „Wir haben es schon heute Morgen gespürt, beim Aufstehen …“

„Oh ja, Regen“, antwortete Lili mit heller Stimme. „Aber da wird der Großvater Hamann ganz nass …“

„Das macht ihm nichts“, sagte der Tischler Bertram, „der Regen ist gut, denn er nährt die Erde, und angenehm ist uns das Tropfen und Rieseln, oh ja, haha …“ Er lachte verlegen, aber Lili verstand ihn, sie mochte es auch, wenn die Tropfen, die warmen, blinkenden, grauen Tropfen durchs Haar glitten, die Wangen hinunterrollten, dass man es rieseln spürte im Gesicht, und dann lief es in die Augen, und ein silberner Schleier war über der Welt …

Hinter sich hörte Dietrich das leise Knarren des Brettes auf den Querhölzern, das ist der Laut der Welt, dachte er, und die Worte gefielen ihm, ja, wiederholte er bei sich, das ist der Laut der Welt, der Laut der Welt.

Der Großvater Hamann wackelte mit den Füßen, die dürren Zehen gerade in die Luft gestreckt, denn der Weg war noch schmaler geworden, und die Träger auf der rechten Seite mussten immer wieder an dem niedrigen Erdwall entlangsteigen, der den Weg begrenzte, das ließ das Brett schaukeln und schwanken.

„Gebt acht, dass ihr ihn nicht fallen lasst“, sagte Dietrich, der sich umgeschaut hatte. „Unziemlich wäre das.“

Unziemlich … sein Blick streifte mit einer Art Missbilligung das strotzende Glied des Großvaters, prall lag es da und präsentierte sich allen Blicken, man sollte darüber nachdenken, ob die Toten nicht besser zu verhüllen wären … aber das war nicht üblich, auch hatte Vautrin ihn so geschaffen, nichts Unrechtes war daran. Nichts Unrechtes? Wer weiß … Und Dietrich war verwirrt über sich selbst, verstand seine Gedanken nicht, dann biss er die Zähne zusammen und nahm sich vor, Vautrin zu loben, da vorne am Grab.

„Ist es noch weit?“ fragte Jeremias. Er trottete hinter Halbord und Waldemar her, die beiden unterhielten sich, mit schwerem Ernst, über den Verbrauch der Menschen an Stoffen, und was ein Dorf verbrauche und insbesondere das Haus, und was die Menschen selbst herstellen könnten und was der Kaufmann liefern müsse. Halbord führte Jeremias an der Hand, wie es ihm aufgetragen worden war, aber das war ihm nicht recht, er fühlte die klebrige Kinderhand in der seinen, und es grauste ihn, und Jeremias ließ sich ziehen, zwei Schritte hinterher.

„Ist es noch weit?“ quengelte Jeremias erneut, und als Halbord wieder nicht antwortete, brüllte er: „Es ist so weit – weit – weit!“

Halbord blieb mit einem Ruck stehen, Erbitterung im Gesicht, für einen Augenblick sah es so aus, als wolle er dieses nörgelnde und flennende Ding da schlagen, er hatte es satt, immer beplärrten ihn die Weiber, du musst auf das Kind aufpassen, du bist schon groß, du bist verantwortlich, und wenn etwas schiefging, wenn dieses Mistbalg sich die Knie aufschlug, dann wurde er geschimpft, so war das, und er hatte es satt.

Von hinten kam David herbeigeschlendert. Er ging nach seiner Gewohnheit vornübergebeugt, das Gesicht zu Boden gekehrt, und dabei hielt er die Arme auf dem Rücken verschränkt. Der Blick war abwesend. Als er merkte, dass vor ihm ein Hindernis war, weil nämlich Jeremias und die beiden Älteren stehen geblieben waren, schaute er auf und verstand, was anlag.

„Weißt du, was mit kleinen Kindern passiert, die im Leichenzug nicht ordentlich mitgehen, he?“ fragte er. „Die nicht brav setzen einen Schritt vor den anderen, hehe, und sich fortbewegen, ganz wie‘s die anderen tun, he? Du weißt es nicht? Ich sag’s dir.“ Er legte den Zeigefinger gegen die Nase, beugte sich tief nieder zu Jeremias, dem der Rotz aus der Nase lief, und zischelte ihm ins Gesicht: „Den packt Vautrin mit ins Grab, zu dem kalten Großvater, und dann wird die schwarze Erde drüber geschüttet, und dann kommst du da nie wieder raus, und dann fressen dich die Würmer, und dann wirst du mal sehen, was es heißt, auf der Stelle zu treten.“

Jeremias prallte zurück, und Halbord lachte unfroh, Waldemar dachte bei sich, dass das eine seltsame Art von Geschichten sei, die David da erzählte, aber schließlich, es waren halt Dörfler, die wussten es wohl nicht anders … Und sie machten sich wieder auf den Weg, es hatte jedenfalls gewirkt, Jeremias war folgsam, schaute sich nur ab und zu nach David um, indem er den Kopf ins Genick drehte, sagte aber kein Wort mehr.

Und David blieb noch einen Augenblick so stehen, wie er war, blieb einfach so stehen auf dem Weg, den Kopf niedergebeugt, den Zeigefinger gegen die Nase gelegt, mit starrem und abwesendem Blick, bis die nächste Gruppe hinter ihm ankam und eine der Frauen ihn anstieß und sagte: „He, David, geh doch weiter …“ Sie sagte es behutsam und in freundlichem Tonfall, bei David konnte man nie wissen, und er richtete sich auf, glasig war sein Auge, schaute sich um und brauchte eine Weile, um zu begreifen, wo er war. Dann sagte er: „Ja doch, ich geh ja schon“, und machte sich wieder auf den Weg, die Arme in der Luft schwingend.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 18.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)