Die Vormünder

Ich muss euch den impliziten Selbstwiderspruch nicht weiter auseinanderlegen. Die hocherweckten Taschen empfahlen sich den Frauen, die zu befreien sie auszogen, als bewusstseinsformende Vormünder. Die Befreier waren zuerst und vor allem einmal Bevormunder, da duldeten sie keine Widerrede. Sie wussten es besser, sie wussten eigentlich alles besser, und wer nicht folgen wollte, der hatte eben das falsche Bewusstsein. Die Augen der Taschen flackerten, wie die aller Erleuchteten. Flackerten wie die Fenster brennender Irrenhäuser. Sie lachten gewohnheitsmäßig. Sie hatten die Wahrheit erkannt, und wo sie hinsahen wo sie hinlangten, wuchsen ihnen Belege entgegen, Belege für die Wahrheit. Sie verstanden gar nicht, wie einer nicht sehen konnte, was sie sahen. Verblendungszusammenhang! Die Massen, die sind alle getäuscht, die laufen alle Rattenfängern hinter, die lassen sich alle am Nasenring herumziehen! Die haben sich an die Unterdrückung gewöhnt, die wollen gar nicht mehr raus! Da muss nachgeholfen werden.

Die gewöhnlichen Menschen, um die es angeblich ging, all die unterdrückten Massen Rassen Klassen, vor allem aber darin die unterdrückten Frauen, blieben zögerlich. Angesichts der Widerstände wurde den Taschen revolutionär ums Herz, denn das ist so mit den hocherweckt Erleuchteten, sie wachsen an Widerständen. Da alle unterdrückten Gruppen je zur Hälfte aus Frauen bestehen, so argumentierten sie, ist alle Befreiung vor allem Frauenpolitik. Es kann überhaupt keinen Wandel menschlicher Verhältnisse geben ohne Frauenpolitik! Die Befreiung der Frauen von der Unterdrückung durch die Männer ist der notwendige erste Schritt allen befreienden Handelns überhaupt. Ist doch logisch! Nur Verblendung kann das nicht sehen! Denn auch in den unterdrückerischen Gruppen sind die Frauen ja immer die Unterdrückten, über ihnen stehen unterdrückend die Männer, also sind alle Unterdrückungsverhältnisse Verhältnisse, in denen Männer Frauen unterdrücken. Das ist der innerste Kern menschlicher Geschichte.

Und so weiter.

Ich höre, was ihr da murmelt. Aber bedenkt bitte, wesentlich blöder als die Stiefel- oder die Mützendenke war der Müll auch nicht. Ein Wesen wie das Menschtier, das in ganz ernsthafter Selbstbegeisterung zu krähen imstande ist: Alle Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, das ist auch imstande zu krähen: Alle Geschichte ist eine Geschichte der Unterdrückung der Frauen durch die Männer. Wenn solcher Gröl geschichtsmächtig wird, ergibt sich das moralische Problem, um dessentwillen wir hier zusammensitzen, nämlich das Problem des Mitmachens. Das Menschtier versucht gern, sich aus seiner Verantwortung zu stehlen, indem es von den Großen Denkern redet. Aber eine Schnapsnase, die vom Rassen- oder Klassenkampf was weiß, ist kein Großer Denker, und die Lautsprecherinnen der Taschendenke waren intellektuell so armselig, dass sich um sie nicht einmal ein Kult bildete. Das menschliche Unheil ergibt sich nicht aus der Existenz von Vordenkern, sondern aus der Existenz von Mitmachern. Ich habe es schon einmal gesagt, und wiederhole es: wenn der große Vordenker, auf seiner Apfelsinenkiste im Parkwinkel stehend und die Glocke läutend, von den Passanten einfach ausgelacht würde, hätte das Menschtier kein Problem mit dem. Der würde einfach eine Weile stehen und schreien, und am nächsten Tag würde er noch einmal wiederkommen, und irgendwann würde er seinen Kram zusammenräumen und einen anständigen Beruf ergreifen, und die Sache hätte sich. Wenn er zu dem anständigen Beruf sich durchzufinden gar nicht imstande wäre, würden äußerstenfalls die in den weißen Kitteln kommen. Aber so einfach laufen die Dinge nicht, nach den Gewohnheiten des Menschtieres. Nach den Gewohnheiten des Menschtieres kann ein Gröler noch so gestört sein, es sammeln sich früher oder später die Mitmacher um ihn. Möglicherweise ist die Gestörtheit sogar Bedingung und Anreiz für die Mitmacher. Sie fühlen den Wahn und denken: Der hat Charisma! Was ganz Besonderes! Da mach mit, mein Kind, flüstert dazwischen der Lederflüglige, und das Menschtier lässt sich das nicht zweimal sagen.

Keine Einrede hilft da weiter, dachte der Junge in immer sich erneuernder Ratlosigkeit. Und wozu bräuchte es überhaupt Einrede? Ein Blick in ein beliebiges Produkt der Stiefeldenke der Taschendenke genügt doch, und das Miasma der seelischen Gestörtheit steigt in die Nase.

Aber da sind die Menschtiere, denen ist solches Miasma Wohlgeruch in den Nüstern. Moschus und Ambrosia. So stehen sie auf und machen mit. Wenn sie aufstehen, weiß man nicht, wo waren die vorher. Müssen doch ein Leben gehabt haben? Plötzlich sind sie Gefolge, schreien, Führer befiehl, wir folgen. Plötzlich ist die gestörte Irre eine große Vordenkerin, die weiß und weist. Und die Weisung erhalten, jauchzen. Endlich Sinn in unserem Leben! Endlich all das Unbegreifliche geordnet zu einfacher Verständlichkeit! Danke! Danke! Die Offenbarung!

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)