Außensicht

„Der Großvater Hamann …“ sagte Magdalena leise und etwas mühsam, „jetzt ist er tot, und ich hab ihn gar nicht richtig gesehen …“

„Er lag schon im Sterben, als wir kamen“, sagte Grand Mère sachlich, „da hat es nicht mehr viel zu sehen gegeben … und jetzt liegt er unten in der Großen Halle, und morgen wird er begraben, so geht nun mal das Leben …“

„Und was für einen Lärm sie gemacht haben, gestern“, fuhr Magdalena fort, „seltsam war das, nie habe ich dergleichen gehört … aua …“

„Entschuldige“, sagte Inge, die zu hart zugegriffen hatte. „Weißt du, die nennen das ‚den Tod fortwegen‘, ekelhaft war das …“ Sie runzelte die Stirn und wurde rot. „Sie sind im ganzen Haus herumgerannt und haben gekreischt, als wären sie von einer Schlange gebissen worden, na, und ich will gar nicht daran denken … und hoffentlich muss ich sowas nie wieder sehen in meinem Leben …“

„Aber, mein schönes Kind“, sagte Magdalena, die so gut wie nichts mitbekommen hatte, da die Weiber das Krankenzimmer verschont hatten, dort war der Tod ja schon gewesen und würde also nicht noch einmal hinkommen, oder wenn doch, würde er die Kranke mitnehmen und die Gesunden in Ruhe lassen, so oder so, sie hatten ein Bogen gemacht um Magdalenas Bett, „es sind halt Dorfbewohner, du weißt ja, wie die sind, merkwürdige Gebräuche haben die oft, man muss sie nehmen nach ihrer Art …“

„Hm“, machte Grand Mère, „ich kann nur sagen, es ist gut, dass der Maître das nicht gesehen hat, ich glaube, er hätte einiges dazu zu sagen gewusst …“

„Aber ganz bestimmt“, fiel Inge ein, „und gar nicht liebreich wären seine Worte gewesen …“

Eluard lachte, das hatte lustig geklungen, gar nicht liebreich wären seine Worte gewesen …

„Ja, aber das ist doch wahr“, sagte Inge und musste auch lachen, „überhaupt ist das ein komisches Haus … und erst der Hausherr, der Dieterich, den müsstest du kennenlernen …“

„Er heißt Dietrich, nicht Dieterich“, warf Grand Mère ein.

„Wenn das stimmt, was mir Roger erzählt hat“, fuhr Inge fort, mit einem flüchtigen Kopfnicken, zum Zeichen, dass sie Grand Mère gehört hatte, „dann glaubt er, dass der Tod der Herrscher über die Welt ist, ja, genauso hätte er’s gesagt, meint Roger, der Tod sei alles, und alles andere ihm unterworfen … und Aslan muss gewaltig mit ihm disputiert haben …“

„Das gibt es, bei den Dörflern“, sagte Grand Mère ernsthaft, „sie verstehen nicht die Wandlungen, und die Flucht der Dinge … das macht, sie sehen immer nur sich selbst, und ihr kleines Dorf, und ihre Äcker … kaum, dass mal ein fremdes Gesicht vorbeikommt. Deshalb halten sie sich für die ganze Welt, Vautrins unendliche Welt, und entsetzen sich gar sehr, wenn einer dahin muss …“

„Sie erzählen schaurige Geschichten“, klagte Inge, „ohne Freude … und der Dieterich sagt, dass es das Haus sei, was eigentlich wichtig wäre, nicht die Menschen …“

„Das ist die Angst“, sagte Grand Mère.

„Sicher meinen sie es nicht so“, warf Magdalena begütigend ein, „es sind doch gute Menschen, schaut, wie sie uns aufgenommen haben, sie sehen halt die Welt nach ihrer Weise, und es entsteht ja kein Schade daraus …“

Aber Grand Mère und Inge machten zweifelnde Gesichter und wollten sich auf nichts einlassen.

„Wie dem auch sei“, sagte Inge, „noch zwei Tage, dann bist du kräftig genug, und wir fahren weiter, und wahrhaftig, ich bin nicht böse darum … nun nimm die Beine auseinander …“

Magdalena tat es, und Inge wusch die Innenseiten Ihrer Schenkel, aber als sie an das Geschlecht kam, zuckte Magdalena zusammen.

„Jetzt ist sie doch wund geworden …“ sagte Inge. „Wir haben uns doch so Mühe gegeben, sie sauber zu halten … Liegestellen hat sie auch …“

„Das ist nun nicht zu ändern“, sagte Grand Mère, „ich werde ein Kräuterbad bereiten, dann wird’s schon wieder werden.“

„Ich muss jetzt gehen“, sagte Eluard und rutschte herunter von seinem Stuhl. „Draußen wartet Lili auf mich.“

„Ach ja“, sagte Inge lachend, „das ist seine kleine Freundin, weißt du, ein kleines Mädchen aus dem Haus, sie war schon hier, aber da warst du nicht wach.“

Eluard ging hin zu Magdalena, und sie drückte ihn an sich und küsste ihn. „Es war lieb von dir, dass du mich besucht hast“, sagte sie leise, und fügte hinzu, fast als hätte sie ihn verstanden: „Und bald fahren wir wieder weiter, du wirst sehen …“

Sie umfasste ihn noch einmal und küsste ihn, ganz weich und zärtlich war sie, und dann ließ sie ihn gehen, und er verließ das Zimmer und war seltsam glücklich und zuversichtlich, als wäre ein dunkler Traum von ihm genommen, als wäre das Leben auf einmal eine einfache Sache … und schließlich, was ist auch schwierig daran, man muss es ja nur leben, nichts weiter, nicht wahr …

„Das hat aber lang gedauert“, rief Lili, die treu draußen gewartet hatte.

„Ja“, erwiderte er fröhlich, „aber jetzt bin ich wieder da.“

„Gehen wir runter?“ fragte Lili. „In den Hof?“

„Hm, ja …“ antwortete er, „ich würd gern in den Stall gehen, Moses Maimon besuchen, weißt du, den dicken Ochsen …“

„Au ja“, sagte Lili, „das machen wir.“

Und sie fasste ihn bei der Hand und führte ihn nach unten, denn allein hätte er den Weg nicht gefunden.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)