Der Brillante liebte die Frauen, das hatte er mit dem längst verstorbenen Jungen gemeinsam, dem Jungen, von dem er nichts wusste, und als er sich seinem anvisierten Doktorvater an der ehrwürdigen Universität vorstellte, hatte er gesagt, unter anderem, Frauenforschung, das würde mich interessieren. Weibliches Leben unter den Bedingungen der Revolution. Denkformen und Einstellungswandel.
Der anvisierte Doktorvater hatte gleich sich interessiert gezeigt, da sind noch Lücken in der Forschung, hatte er gesagt, und der Brillante hatte geantwortet: Die ganze Forschung ist eine Lücke.
Man hatte sich gleich gut verstanden, und so hatte der brillante junge Doktorand eine lettre de cachet für die sorgsam gehüteten Keller der Revolutionsarchive bekommen, und ansonsten freie Hand.
Das Quellenmaterial zur Revolutionszeit lag verstreut über die Archive der ganzen Stadt, und weiter des ganzen Landes. Es hatte den Versuch gegeben, das ungeheure Material zentral zu sammeln, in einem eigenen Institut zur Erforschung der Revolution, aber nicht alles, was im fraglichen Zeitraum geschehen war, war der Revolution zuzuordnen. Der Brillante wusste, alles ist Dokument, alles ist aussagekräftig. Wer durch den Wald streift, findet das unbekannte Pflänzchen nur, wenn er die Augen offen hält. Wer durch die Bibliothek stromert, muss den unbekannten Büchern den unbekannten Titeln eine Chance geben, erst dann wird er belohnt mit dem Fund des Unerwarteten.
Die Frauenforschung war noch zu Zeiten des Jungen eine Spezialdisziplin gewesen, ziemlich in der Hand von Frauen, die die Tasche über der Schulter trugen, und zwar stets so, dass man sie sehen konnte. Das hatte sich geändert. Ich habe die Gründe da und dort schon angedeutet. Die taschenschwingende Frauenforschung hatte sich immer auch als Frauenpolitik verstanden, und Frauenpolitik hieß für die Taschen: Selbstermächtigung der Frauen, Befreiung der Frauen von der Unterdrückung. Unterdrückung war Kernbegriff der Taschenforschung gewesen, Kernbegriff und also Kampfbegriff. In der Verwendung dieses Begriffes als analytisches wie als politisches Instrument trafen sich die Taschen mit allen, die sich selbst als Hocherweckte feierten. Auch für das Hocherweck war der Ausgang aus der Unterdrückung umfassendes Programm gewesen, wissenschaftlich wie politisch. Überall Unterdrückung, sahen die Wecker des Hochgeleuchts. Selbstverschuldete Unterdrückung, indem die Menschen sich an ungeklärte Begriffe überkommene Denkmuster hefteten, eine Zuflucht und Sicherheit suchend, die doch nur Tyrannis sein konnte. Dialektik! Die Dialektik von Geborgenheit und Unterdrückung war zu entschlüsseln, das Hochgeleucht feierte sich als den Sprung ins Ungewisse. Mitzureißen waren bei diesem Sprung auch alle, die unverschuldet in die Unmündigkeit geraten waren: die unterdrückten Klassen Rassen Massen. Alle, auf denen die Eisenfaust ausbeuterischer Interessen gelastet hatte, und die, verstrickt in den Verblendungszusammenhang, den allein befreienden Sprung in die Erkenntnis gar nie gewagt hatten. Das war der Punkt, versteht sich. Die seufzenden Massen Rassen Klassen waren gewöhnlich so gefangen in der Unterdrückung, dass die Unterdrückung ihnen lieb geworden war. Wie dem Gefangenen seine Zelle irgendwann Heimat wird. Sie konnten sich selber gar nicht mehr befreien, denn sie empfanden sich nicht als unterdrückt, und wer sich nicht als unterdrückt erkennt, wie soll der sich befreien wollen? Da musste der Erweckte eingreifen, überlegen deutend und belehrend und die Verhältnisse klärend, den dumpfen Unterdrückten die Augen öffnend. Als Tasche zuerst und zuvörderst den Frauen die Augen öffnend, denn wo immer auf der Welt Unterdrückung herrschte: Frauen seufzten mit. Die Hälfte der Massen Rassen Klassen waren ja Frauen! Die wussten das nur noch nicht! Die verstanden das nicht! Die sahen die Zusammenhänge nicht! Und auf die Zusammenhänge kam es an, immer. Nichts war den Hocherweckten so wichtig wie das Durchschauen der Zusammenhänge. Da trafen sich die Stiefel und die Mützen und die Taschen, die Herrschenden streuten den Massen Sand in die Augen, aber die Hocherweckten durchschauten die Zusammenhänge und brachten Licht ins Dunkel. Das ist unsere Aufgabe das ist unsere Verpflichtung, wussten die Stiefel die Mützen die Taschen, wir bringen Licht. Und die Finsternis heult, wenn wir kommen. Wir aber leuchten hinein ins Dunkel. Die Taschen folgten diesem Muster, vorexerziert von den Stiefeln den Mützen. Wir bringen Erkenntnis, kündeten sie, und mit der Erkenntnis Befreiung. Wir bringen Licht ins Dunkel.
Es ist doch immer das gleiche Elend, seufzte der Wecker seufzte die Tasche. Wenn wir die Menschen aus der Unterdrückung herausführen wollen, ist unsere erste und schwerste Aufgabe, ihnen die Unterdrückung überhaupt erst einmal bewusst zu machen! Wohlverstandene Leuchterpolitik, wohlverstandene Taschenpolitik ist immer und zuerst Bewusstseinspolitik.
Und so weiter.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)