Wende

Ihr seht, in welch kurzem Zeitraum sich die religiöse Wende vollzog. Ein Menschenleben konnte sehr wohl die Vorgänge überblicken. Die Katastrophe mit der Konzentranze würde der Brillante nicht mehr erleben, die radikale Neuorganisation der Universitäten jedoch, vor allem aber der Aufstieg der alles dominierenden Abortforschung, würde in seine Lebenszeit fallen, viel von seiner Kraft würde er auf Gremienarbeit verwenden müssen, die Bibliotheken abgewickelter Institute mussten unter Fach gebracht werden, die Wissenschaftler versorgt, der Ansturm der Studenten auf das rasch sich verzweigende Fach der Abortforschung kanalisiert werden. Die stürmischen Aktivitäten des Doyen würden beginnen, da würde er selber, der Brillante, noch in vollem Saft stehen, und dann würde alles ins Rutschen kommen, die akademische Welt, wie er sie kannte, würde untergehen, und er würde sich auch noch sagen müssen: hab ich selber angeleiert.

Nehmt das mit dem Untergang der akademischen Welt bitte cum grano salis. Die Geschichtsforschung war hauptsächlich betroffen vom Einstellungswandel, der mit der religiösen Wende einherging, die Soziologie, und das, was man die geisteswissenschaftlichen Fächer nannte. Viele Lehrstühle überlebten die Wende nicht, die Institute der Selbstbemacher verschwanden ebenso wie, in den Ländern, da es sie gab, die gottesgelehrten, denn da sich mit der religiösen Wende auch der Gedanke des Marktes durchsetzte, war an die Bevorzugung irgendeiner Religion an den Universitäten nicht mehr zu denken, die wohlhabenderen Religionen gründeten eigene Forschungsinstitute und mussten sich ans Spendensammeln machen, und was die Institute der Selbstbemacher anbelangte, so überstand keines die Wirksamkeit der neuen Evaluierungskommissionen. Unberührt vom Wandel würden hauptsächlich die naturwissenschaftlichen und mathematischen Fakultäten bleiben, auch die meisten medizinischen. Den technischen Hochschulen und den Verwaltungshochschulen würde der Wandel mächtig Aufschwung verschaffen, ich habe schon angedeutet, dass in der Welt nach der religiösen Wende Politik ihre Aufgaben wesentlich als administrative begreifen würde, denn dem noch zur Zeit des Jungen valenten Gedanken, der ja auch Taschen und Stiefel und Mützen beflügelt hatte, dass nämlich der Politik sinngebende Funktion zufallen solle, wurde nun mit Spott und Verachtung begegnet, manch Nachricht aus der alten Welt, nahegebracht durch die elektronischen Spielzeuge, würde blanker Unglaube antworten. Politiker als Führer? Anhänger als Gefolgschaft? Von den Politikern würde jetzt Sachverstand erwartet werden, das abgeschlossene Studium an einer Verwaltungshochschule würde global bald zur Jobbeschreibung gehören, von dem genialen Dilettantismus früherer Zeiten, ohnedies häufig nicht unterscheidbar von frechem Schwindel, würden die Wähler nichts mehr wissen wollen. Was kann der? was hat der schon gemacht? wo hat er gelernt? würden die Fragen sein, bevor das elektronische Kreuzchen auf dem Wahlzettel angeklickt wurde.

Charakteristisch für die religiöse Wende war, dass das Gefühl freudigen Aufbruchs, das sie grundierte, mit den Jahren eher stärker wurde als schwächer.

GOtt regiert die Welt, fühlten die Menschen, GOtt erschafft jeden Tag die Welt neu, wir können also nicht wissen, was morgen sein wird, was GOtt uns bereithalten wird für das Morgen, deshalb brauchen wir die Freiheit des Marktes, um auf das immer unbekannte, immer neue Morgen stets angemessen reagieren zu können. Jeder Plan ist in seiner Starrheit zum Zerbrechen verurteilt, wenn er auf GOttes unvorhersehbaren Wandel trifft, und der Wandel ist die Wirklichkeit, der Wandel ist das Geschenk. Wie gut, dass wir den Plan los sind.

Aber ich greife vor.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 13.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)