Dennoch. Als offizielle Feier wurden die Jahrestage der Revolution auch nachher noch begangen im Revolutionsland, und die Wucht des Tiefschlags, den der Brillante landete gegen Revolution und Hochgeleucht, mögt ihr daran ermessen, dass es nach seinem Auftreten mit dem Feiern ein und für alle Mal vorbei war.
Eine Zweihundertfünfundsiebzigjahrfeier sollte es nicht mehr geben.
Manche der späteren Historiker verwiesen gern auf die Katastrophe der Zweihundertfünfzigjahrfeier, um die Leistung des Brillanten wenn schon nicht zu verkleinern, sondern doch in „den angemessenen Rahmen“ zu stellen. Sowas haben Historiker zu allen Zeiten gern gemacht, aber es versteht sich von selbst, dass in der Geschichte des Menschtieres große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, und welche Tat große Wirkungen hat, die hat wahrscheinlich auch Bedingungen und Voraussetzungen gehabt.
Bedingung und Voraussetzung dafür, dass die Zweihundertfünfzigjahrfeier zum Debakel geriet, so gaben nachträglich die Historiker zu bedenken, war die zunehmende Lärmigkeit der einschlägigen Diskussion gewesen, Diskussion um den Begriff und den Wert und die Würde dessen, was als „Hocherleucht“ nicht mehr akzeptiert wurde, und der Coup des Brillanten versetzte nachher dem bereits zur Schlottergestalt herabgeminderten Riesenpopanz nur noch den Gnadenstoß.
Sicher was dran. Doch soll uns solche Einordnung nicht den Blick darauf verstellen, dass der Brillante dem Sündenregister des Hocherwecks tatsächlich einen bis dahin unbekannten Posten hinzugefügt hatte. Dass der neue Anklagepunkt tödlich war, hatte, Ironie der Sache, die Leuchterdoktrin sich selber zuzuschreiben.
Der Reihe nach.
Sein Studium begonnen, wurde der Brillante seine sonderbare Unruhe nicht los. Er dachte: Ich will was rauskriegen, was keiner vor mir gesehen hat. Irgendeine Tatsache, einen Zusammenhang, einen Sachverhalt. Irgendetwas, was fortan fest mit meinem Namen verbunden sein wird. Muss nichts Großes sein, nichts Weltbewegendes, nur neu soll es sein. Einen Acker will ich finden, den vor mir noch keiner urbar gemacht hat. Ein neues Gärtchen anlegen.
Seine souveränen sprachlichen Fertigkeiten empfahlen ihn hinüber ins Nachbarland. Ich geh mal rüber, dachte er, wenigstens für zwei Semester, ich brauch eine neue Umgebung.
Der Wolkenhimmel über der großen Stadt am Fluss nahm ihm den Atem. Kapitale des Nachbarlandes. Er dachte, einen so hohen Himmel noch niemals gesehen zu haben. Es war immer noch der gleiche Himmel, wie ihn der König gesehen hatte, bevor ihm der Kopf abgehackt wurde, von der hocherweckten Maschine, unter der zum Schluss alle gleich waren. Der Lehrer an der ehrwürdigen Universität, bei dem er vorstellig wurde, schickte ihn hinunter in den Keller. Die Universität war eine der ältesten des Kontinents, der Brillante war ein bisschen beeindruckt von sich selber, dass er es bis hierher gebracht hatte. Der Keller war nicht muffig nicht stickig, sondern klimatisiert und barg gewaltige Konvolute an Manuskripten, aus der Zeit der Großen Revolution und danach, und der Brillante machte sich an die Arbeit. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, dass er dabei war, dem Hocherweck das Grab zu schaufeln.
Zu dieser Zeit war der traditionelle Universitätsbetrieb noch in vollem Gange, die Erforschung der Neuen Geschichte war diversifiziert, in zahllose Spezialdisziplinen unterteilt. Sowohl der spätere Doyen der Abortforschung als auch die spätere hochangesehene Nationalhistorikerin waren schon geboren, lagen aber beide noch in ihren Windeln, und der Brillante konnte nichts von ihnen wissen. Er konnte auch nichts davon wissen, dass all die vielen Universitätsinstitute, die die Neue und Neueste Geschichte in ihren Spezifikationen erforschten, bald selber Geschichte sein würden, und dass er zu ihrem Untergang beitragen würde. Der Untergang würde nicht gewaltsam sein, sondern ein friedliches Sterben an Altersschwäche. Er selber, der Brillante, würde einer der letzten der Spezialisten sein, und erst in höheren Jahren begreifen, welchen Ball er ins Rollen gebracht hatte. Als alter Mann blickte er gerne von seinem Schreibtisch auf, durchs Fenster hinaus auf die altvertrauten Türme der Stadt, immer noch derselben Hauptstadt des Nachbarlandes, denn dort würde er geblieben sein, geheiratet haben und Kinder gezeugt, und er murmelte dann, niemand hätte das voraussehen können, niemand.
Die religiöse Wende seiner Kindheit, sie würde den ganzen Planeten ergriffen haben.
Einer der letzten Doktoranden, die er vor seiner Emeritierung noch akzeptieren würde, würde übrigens der Elegante sein. Ich bin kein Spezialist für die Abortforschung, das war nie mein Gebiet, würde er dem jungen Mann sagen, der junge Mann aber würde ihn ansehen und frech sagen: Ich möchte unabhängig arbeiten.
Ein anderer würde das vielleicht als Beleidigung aufgefasst haben, mindestens als respektlose Herausforderung, der Brillante aber würde an seinen eigenen Doktorvater denken, den er auch ziemlich unangenehm überrascht hatte, und würde amüsiert nicken.
Es weiß sowieso niemand, was morgen passiert, würde er denken.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)