Als die Zweihundertfünfzigjahrfeier der Großen Revolution näher rückte, hatte man großes Remmidemmi in den Blick genommen. Erneut und mal wieder. Drei Tage Feier und Umtrunk in der Hauptstadt der Revolution, drunter wollte man es nicht machen. Gedenkveranstaltungen, Gedenkpublikationen. Die Große Revolution, der Grundstein unserer hocherweckten Kultur unserer demokratischen Kultur unserer laizistischen Kultur unserer pluralistischen Kultur, was immer. Mit dem Pluralismus hatten es die Wecker besonders, ausgerechnet sie, die in ihrer Einheitskultur abweichende Meinungen und Einstellungen bestenfalls als Objekt mitleidiger Toleranz gelten ließen, wofern man den Familien der Abweichler nicht gleich das Jugendamt auf den Hals schickte, Verdacht auf sexuellen Missbrauch im Kinderzimmer, da ließ sich immer was machen. Schon zur Zweihundertjahrfeier, fünfzig Jahre zuvor, hatten die kritischen Stimmen nur mit genauer Not noch sich niederbrüllen lassen, aber es war im Großen und Ganzen doch gelungen, die kritischen Publikationen auf bewährte Art zu marginalisieren. Kennich! Kennichdochlängs! Alter Hut! Gähn! Funktionierte nun nicht mehr. Die Öffentlichkeit redete über die ungezählten Morde, über die Vertreibungen, über die Massenflucht. Vor allem aber über die Niederknutung der freien Meinung, die Zensur. Die Hocherleuchteten, die den Boden unter den Füßen entgleiten fühlten, reagierten mit hilfloser Wut, für den altbewährten Gestus mitleidiger Überlegenheit fanden sie nicht mehr die Kraft. Das wissen wir doch alles längst! Das finden wir doch auch nicht gut! Aber die Revolution war nun einmal die Initialzündung der Moderne!
Die Revolution war die Initialzündung der Antimodernen Revolte, entgegnete hohnlachend die Öffentlichkeit, denn der Antagonismus Moderne – Antimoderne Revolte war zu dieser Zeit schon in aller Munde. Die Initialzündung der Antimodernen Revolte! Damals haben die als erstes die freie Rede unterdrückt, und ihr macht das heute genauso. Es soll über die Revolution wieder nur so geredet werden, wie ihr das wollt! Die Revolutionäre wollten nicht die Moderne, sie wollten nicht den Fortschritt. Sie wollten den Plan. Sie wollten ihre reine und abstrakte Blaupause, und aus der wollten sie die Weltordnung ableiten. Nichts Geringeres. Die perfekte Gesellschaft, die perfekte Denke. Sie fühlten sich den Untertanen überlegen, sie wussten besser als die Untertanen, was für die gut war, und so denkt so handelt ihr heute noch. Lügt frech, ihr wolltet reden ihr wolltet handeln im Namen des Volkes, nichts sonst, aber in Wahrheit, wenn es ums Reden und Handeln geht, da hat das Volk nichts zu melden. Ihr wollt die Macht, ihr wollt die Zwangsbeglückung, und wer sich euch in den Weg stellt, wird weggeräumt. Ihr wollt den Terror, wie die damals. Danach lüstet euch. Ihr wollt die Angstmacher sein, und jeder soll sich ducken vor eurem Blick. Die damals haben mit Angst regiert, und ihr wollt das nach wie vor genauso. Jeder soll Angst haben. Angst, die falsche Meinung zu haben, Angst, ein falsches Wort zu benutzen. Wo ihr herrscht, hatten und haben die Untertanen das Maul zu halten, ihrer war und ist, die Beglückung durch die von euch erkannte Perfektion hinzunehmen in unterwürfiger Dankbarkeit. Widerstand wird mit Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft bestraft, mit Redeverbot, mit Denkverbot. Ihr wollt die Gesinnungsmachthaber sein, die festlegen, was gesagt und gedacht werden darf. Ihr wollt besser wissen als wir selber, was gut für uns ist. Ihr wollt euch im Besitz wissen des überlegenen Wissens, und wir sollen selig dankbar sein, dass solche Wohltat uns wird. Wir scheißen drauf. Wir können selber entscheiden, was gut für uns ist. Wir brauchen keine vorgesetzten Pädagogen, wir brauchen keine Vormünder, wir brauchen keine Vordenker. Denken und entscheiden können wir selber, und wir denken und entscheiden jetzt, dass wir uns von euch nicht länger auf der Nase herumtanzen lassen wollen. Ihr habt euch lange Jahrhunderte als die Besserwisser empfohlen, die viel zu erhaben sind, um Gegenmeinung überhaupt noch anhören zu müssen. Ihr habt auf Gegenmeinung stets mit dem Knüppel geantwortet. Das Massenmorden während der Revolution ist nicht etwas, was man „nicht so gut“ finden kann. Das Massenmorden während der Revolution war Vorbote und Muster erleuchteten Massenmordens für die kommenden Jahrhunderte. In keiner der alten Monarchien hatte es etwas gegeben, was der kalten und planvollen, der maschinenhaften Tyrannei von euch Weckern vergleichbar gewesen wäre.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 07.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)