Lydias Geschichte II

„Da entstand ein Weg durch den Wald, und kamen die Menschen, und fanden Glück in ihren Herzen, da sie die Frau sahen, und das Bild des Menschen wurde hell in ihren Herzen. Und wer sie sah, der ging getröstet davon, und lebte mutiger sein eigenes Leben und lobte die Güte Vautrins und das Leben in seiner Welt.

Wollt aber Lydia nicht leiden, dass Menschen zögen zu ihr in das große Haus, so sehr sie auch drängten. Denn war Freude um sie, war doch Jammer in ihrem Herzen, und erfüllte sie die Macht des Todes. Denn seht, das war ihre Güte und ihre Kraft: da sie litt, ward liebreich sie und voll Aufmunterung zu allen, die zu ihr kamen, sie zu sehen; und das war das Mitleid, die große Weisheit des Herzens, die Vautrin den Menschen gibt, wenn er sie liebt. Aber Mitleid ist Leiden, und Leiden will alleine sein und für sich, so kam‘s, dass Lydia wehrte allen Wünschen und Bitten, das Haus zu öffnen den Kommenden, dass sie darin wohnten, und die Menschen ehrten ihr Gefühl und ließen sie leben nach ihrem Willen.

Und gingen so hin recht viele Jahre, und lebte Lydia in dem großen Haus, allein mit den kleinen Tieren, mit denen teilte sie ihre Nahrung, so Vautrin auf den Stein legte, am Fluss, und es reichte für alle. Und es kamen die Menschen von weither, sie zu sehen, durft aber keiner bleiben.

Da geschah es eines Abends, da sie saß beim Fackelschein in ihrem Gemach, dass sie hört zwei Stimmen rufen von draußen: Mutter, liebe Mutter, lass uns ein, uns friert, und hungrig sind wir und nackend, müssen hier draußen stehen in der Kälte, und lässt uns nicht hineine, da du doch unsere Mutter bist!

Und furchtbar erschrak da Lydia, denn sie erkannte gar wohl, dass es die Stimmen waren ihrer eigenen Töchter, und waren doch lange tot! Und sie sprang hinaus und leuchtete mit dem Licht, vermocht aber niemanden zu sehen, und war alles ganz still vor dem Fenster und auf dem Hof. Da ging sie wieder hinein, und war Furcht in ihrem Herzen, und Trauer.

Und als sie des anderen Morgens hinging zum Fluss, da fand sie, dass Vautrin kein Brot hingelegt hatte, und leer war der Stein.

Da verstand Lydia, dass sie so nicht weiterleben könne, und ein Grauen überkam sie vor dem Alleinsein. Und war der Morgen noch nicht vorbei, da kamen acht Menschen des Weges, und waren drei Mädchen dabei, die mochten noch wohl gebären, und hatten sie bei sich Tiere und Wagen und allerlei Ackergerät, und sie machten Halt und sprachen: Siehe hier sind wir. Und Lydia verstand nicht. Da erstaunten sie sehr und riefen: Wie, ist‘s denn nicht so? Da war ein alter Mann bei uns, wohl vier Wochen ist‘s her, und sagt der uns, es hätt‘ die einsame Frau im großen Haus sich nun endlich bekehrt, die Wohnung zu öffnen, dass Menschen um sie seien und bei ihr wohnten und sie nährten und ihr eine Stütze seien in ihrem Alter und ihrer Einsamkeit. So sprach der alte Mann, und packten wir unsere Geräte und Wagen und Tiere und unsere ganze Habe und machten uns auf den weiten Weg, und hier sind wir nun.

Da verstand Lydia wohl, dass es Vautrin gewesen, der so zu den Leuten geredet hatte, und sie wurde sehr froh und öffnete ihnen das Haus und ließ sie ein in ihre Wohnung.

Und hub an ein großer Fleiß und große Arbeit, da wurde der Wald gerodet, und zimmerten und werkten sie im Haus, und war ein jeder fröhlich bei seiner Arbeit, und sie bestellten die Felder. Und bald kamen noch andere, die hörten von dem neuen Leben in dem großen Haus und zogen herzu, und groß wurde ihre Zahl, und waren doch eine Familie, denn sie sahen an Lydia als eine Mutter, und gut war sie zu allen, und fiel ein Licht auf alles, was unter ihrem Blick geschah. Aber nie redete sie von den wunderbaren Stimmen, so sie zur Nacht gehört.

Und kam der Tag, da klopfte der Tod an die Tür, und Lydia sollte sterben. Und versammelten sich alle um ihr Bett, und trauerten gar sehr, und lauschten ihrem Atem. Da war aber eine, die hatte sie besonders lieb gehabt, war ein junges Mädchen, schön von Wuchs und Angesicht, und das fiel nieder an ihrem Bett und umfasste die Sterbende und rief: Mutter, liebe Mutter, was lässt du uns hier alleine, dass uns friert und wir hier draußen stehen müssen in der Kälte, und hungrig sind wir und nackend, da dein Blick uns nicht mehr beschützt! Da erschrak Lydia gar sehr, denn sie erkannte die Worte, und sie verstand nun, was die Erscheinung gemeint, so ihr zuteil geworden durch Vautrin: denn waren das alles ihre Kinder, und hatte sie sie von sich gewiesen viele Jahre, und endlich aber doch ihr Herz geöffnet.

Und da verstand sie, dass jeder Mensch soll sein dem anderen ein Kind, und jeder dem anderen eine Mutter, und als sie verloren hatte ihre zween Kinder, da hatte sie gewonnen all diese hier hinzu, und hatte sie geliebt wie ihre eigenen, und sie sah, dass Vautrin ihr Leben vollgemessen hatte bis zum letzten Tropfen.

Und war eine große Freude über ihr, und erzählte sie den Lauschenden von dem Wunder, dass Vautrin gewirkt, und alle merkten sich ihre Worte und bewahrten sie in ihren Herzen.

Und sie sagte: Seid alle euch untereinander, was ich war jedem einzelnen von euch. Und sie verschied.

Waren aber ihre Worte in aller Herzen und aller Munde, und sie begruben sie, wie es Vautrin gewollt, und das Haus wuchs gar mächtig und gedieh, und die Menschen darin sind eines Sinnes und lieben einander und beschützen sich, so aber, dass die helle Frau unter uns lebt, als wäre sie noch da im Fleische.

Und sind wohl drei Generationen hingegangen über die Erde seither, und lebt lange niemand mehr, der Lydia noch gesehen, und habe ich schon niemanden mehr gekannt, der noch ihres Anblicks teilhaftig geworden. Aber mein Vater hat mir erzählt von ihr, und ist ihr Geist und ihr Leben lebendig im Haus, und wird so sein, solange hier Menschen wohnen.

Und siehst du, Bruder Aslan, das ist die Beharrung, so Vautrin gewirkt, das ist die Form, die dauert, und stärker ist sie als der Tod, das ist die Beständigkeit im Wandel der Dinge, und kann keine Flucht der Zeitlichkeit zerstören, was eingegraben ist in die Herzen der Menschen, durch die Güte Vautrins.“

Und war Stille im Zimmer im Turm, und schwiegen die Menschen zur dunklen Nacht, und bedachten die Gestalt der Dinge.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 06.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)