Die Alimentierten

Ich habe schon kurz referiert, wie die ganzen Zurüstungen zusammenbrachen, die den Schwindel am Leben gehalten hatten, all das Alimentieren aus öffentlichen Geldern, all das gegenseitige Zuschanzen von Preisgeldern, all die wechselseitigen Lob- und Hymnenkartelle. Alles vorbei. Bitter für die selbstbesoffenen Schwätzer, die sich eben noch für Literaten von Weltgeltung gehalten hatten – war ihnen ja so versichert worden tagein nachtaus von der Feuilletonmühle – und nun zusehen mussten, wie sie an ihren Lebensunterhalt kamen, all die Lesungen und Vortragsreisen, all die Ehrengaben und öffentlichen Zuschüsse, all die ehrenden Erwähnungen durch die hörigen Pressbengels – alles vorbei. Wer künftig noch Geld verdienen wollte mit der Literatur, musste tun, wie es die Autoren der sogenannten populären Literatur die ganze Zeit schon getan hatten: musste seine Werke zu Markte tragen und zusehen, dass er was verkaufe. Die sogenannte hohe Literatur, nicht mehr hochgejubelt von der feuilletonierenden Hymnenmaschine, verschwand von der Bildfläche, als habe es sie nie gegeben, und es war nicht so, dass niemand ihr Verschwinden beweint hätte: niemand bemerkte ihr Verschwinden überhaupt. Ernsthaft Leser hatte es ja nie gegeben, und was die Leuchter in ihrer Selbstbeweihräucherung den Massen in den Gassen unterstellt hatten, dass diese sich nämlich jeden Schwindel aufdrehen ließen: das erwies sich nun als Selbstbeschreibung. Es waren die Hocherweckten gewesen, die sich über Jahrzehnte hatten vom Feuilleton vorbuchstabieren lassen, was als Literatur sie für gut zu befinden hätten. Die Massen hatten gewusst, was sie wollten, die Wecker waren die Urteilsunfähigen gewesen, die Massen waren mündig gewesen, die Aufgeklärten die unmündigen Mitläufer.

Der Schulabschluss des Brillanten war hervorragend, er bekam einen Preis, und wurde in ein Begabtenprogramm aufgenommen, sein Lebensweg schien vorgezeichnet. Akademische Karriere, ganz klar, Historiker. Die Abortforschung existierte noch nicht, der Große Abort war noch nicht einmal ein Begriff, er war noch in vollem Gange, so geht es mit den geschichtlichen Wirklichkeiten des Menschtieres, sie werden zu Begriffen erst, wenn es mit ihnen vorbei ist.

Das Studium der Neuen Geschichte lief noch in den seit alters her vorgezeichneten Bahnen. Das Werden der Weltwirtschaft war ein Thema, das den Brillanten interessierte, aber auch das Wüten der Stiefel, Moderne und Antimoderne, unklare Begrifflichkeiten. Er hatte keine Ahnung, der Brillante, dass er derjenige sein würde, der das Hochgeleucht zur Strecke bringen würde. Er würde den Mythos der Revolution zerstören. Der Großen Revolution. An dem war schon gekratzt worden, aber im Großen und Ganzen stand das Götzenbild noch. Die Große Revolution, Beginn unserer Neuzeit. Wasserscheide Zeitenwende. Der Brillante fühlte eine unbestimmte Unruhe. Anders als einige Jahrzehnte später die Konzentranze, dachte er sich keineswegs zu Hohem berufen. Er wollte die Welt nicht umstürzen. Aber, so dachte er, es wäre doch schön, etwas Neues herauszubekommen. Der Wissenschaft weiterzuhelfen. Ja. In die Erforschung der Neuen Geschichte etwas hineinzubringen, was vorher noch keiner gesehen hatte.

Die Erforschung der Neuen Geschichte war ein gut beackertes Feld. Wie auf allen gut beackerten Feldern sprossen auch hier die ungelösten Detailprobleme gleich büschelweise aus dem Boden. Millionen von Büchern waren schon geschrieben worden über diese reichlich zweieinhalb Jahrhunderte, die seit der Großen Revolution vergangen waren, ich übertreibe nicht, Millionen von Büchern, und Bücher gebären Bücher, das ist eine strenge Regel in der Geschichte des Menschtieres auf dem Planeten Erde. Wo schon hundert Bücher geschrieben sind, schreiben sich die nächsten hundert von selber, aus dem linearen Wachstum wird exponentielles, und bald schon gilt, die Literatur zum Thema zu beherrschen, selbst als Wissenschaft, mancher bestreitet dann seine wissenschaftliche Karriere, indem er Bibliographien schreibt zu den vorhandenen Büchern, oder Findbücher zu der Fülle der Archivalien, und nie geht ihm die Arbeit aus.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)