Es war keine Mode, es war ein kultureller Wandel, ein Einstellungswandel. Ja, es war auch Mode, viele machten erst mal nur mit, was alle machten, aber der Wandel war nicht mehr ablösbar, weil er heraufbrach aus dem Inneren zu vieler Menschwesen, der Lederflüglige geriet ins Gedränge. Nicht dass ihn das beirrt hätte, er ist zu dumm, sich beirren zu lassen. Die Leuchter des Hocherwecks, in Treue fest, sahen das Ende der Welt kommen. Sie starrten den Kindern in die leuchtenden Augen und murmelten untereinander, mit denen kann man nicht mehr reden, es ist, als ob die hypnotisiert wären, da redest du gegen die Wand. Es war nicht das Ende der Welt, es war der Anfang einer neuen Welt. Die Kinder machten sich keine Gedanken über sich selber, nach Kinderart dachten sie, es sei alles so, wie es sein müsse, und der Brillante war mitten dazwischen, dreisprachig, viersprachig. Er wurde sechzehn, und trug gern Rollkragenpullover und Jackett, das war sein Markenzeichen, mit der Brille, die er benötigte. Sport war nicht gerade sein Ding, aber die Hilfe, die er anderen angedeihen ließ, zahlte sich aus, in der Sporthalle wurde nun ihm geholfen, er kam zurecht.
Ich will Geschichte studieren, sagte er auf Rückfrage. Neue Geschichte. Und die Wecker, die ihm begegneten, ahnten nicht, dass sie ihrem Untergang ins Antlitz blickten.
Die Leuchter warnten vor neuen Kulten. Sie waren der alte Kult, ihre Angst vor der neuen Konkurrenz war begründet, aber sie logen den Kindern vor, ihre Angst sei uneigennützig. Tatsächlich war sie durch und durch egoistisch, auf Wahrung des Besitzstandes aus. Was die Kinder anbelangte, war sie gegenstandlos. Unstrittig waren neue und alte Sektenhäuptlinge unterwegs die Fülle. Daran hatte sich nichts geändert. Das Neue an der neuen Religiosität war aber nicht zuletzt ihr Mangel an Unterwerfungsbereitschaft. Die Kinder waren neugierig auf alles, ließen sich aber keine Vorschriften machen. Wenn ein Häuptling auftrat, sagten sie ihm ins Gesicht: Du bist doch bloß ein Mensch. Wieso willst du mehr wissen als wir? Und zu sagen hast du uns gleich mal überhaupt nichts.
Das sagten sie den Hocherweckten ganz genauso und erst recht.
Der Zug ins Synkretistische war, ich erwähnte das wohl schon, Hauptmerkmal der neuen Religiosität. Alles ist möglich, erkannten die Kinder, hinter jeder Tür öffnen sich hundert andere, jede Antwort gebiert zehn Fragen, das ist ja das Aufregende, so soll es bleiben.
Anders als frühere religiöse Aufbrüche wollte dieser sich nicht beruhigen, sondern in Bewegung bleiben. Wer vor seinem Zelt stand und einladend die Glocke läutete, tat gut daran, sich gegenüber dem Nähertreter als Gastgeber zu bewähren, und nicht als Gefängniswärter, wenn er weiter im Geschäft bleiben wollte.
Noch vollzog sich hier der Einstellungswandel ganz innerhalb der alten Gehäuse, der vertrauten Institutionen und Ordnungen. Der Junge hätte keine Mühe gehabt, diese Welt als seine wiederzuerkennen. Dass den Verhältnissen radikaler Wandel widerfuhr, wurde erst auf den zweiten und dritten Blick sichtbar. Die kulturelle Pseudomorphose war längst in vollem Gange, da trat man durch die alten Türen noch immer hinein in die alten Zimmer und alten Korridore, und bemerkte nicht gleich, dass drinnen ein ganz neues Kommen und Gehen zugange war.
Die alten Gesinnungsmachthaber hatten frech unterschieden zwischen Kultur und Popkultur. Was sie Kultur nannten, galt ihnen die eigentliche Kultur, Popkultur logen sie sich zurecht als die merkantile Warenkultur, die den dummen Massen von einer abgefeimten Industrie aufgebunden wurde. Die Wahnfigur, es gebe eine Musikindustrie eine Literatur- eine Filmindustrie, die könne den Menschen nach Belieben andrehen, was diese kaufen sollten, war noch in Geltung und in Umlauf, sie sicherte den Glauben der Wecker an das eigene Durchblickertum, uns kann man nichts unterjubeln, nickten sie sich zu, gegenseitig, die Mützen und die Stiefel und die Taschen, wir sind kritisch, uns kann man nichts vormachen, die Dummen sind es, die jedem lancierten Trend hinterherrennen.
Innerhalb kurzer Frist, ich rede von einem Zeitraum von vielleicht zehn Jahren, war es vorbei mit dem Größenwahn. Das Gerede von der Popkultur endete, weil das Offensichtliche nun als offensichtlich zugegeben wurde: dass nämlich die Popkultur die einzige Kultur war, die es gab, die sogenannte hohe Kultur aber frecher Schwindel des Feuilletons.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 03.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)