Der Brillante

Der Lärm rings um ihn herum war ziemlich laut, konnte auch einem Kind nicht verborgen bleiben. Mützen Stiefel Taschen Hocherweck. Moderne und antimoderne Revolte. Der religiös geprägten Kinder wurde immer mehr, und die Kinder widersetzten sich ihren Lehrern. Die Lehrer fühlten sich oft noch den Traditionen der Wecker verpflichtet, waren also Feinde der freien Meinungsäußerung. Gleichzeitig kündeten sie, sie seien die wahren Verteidiger der Meinungsfreiheit, denn sie seien die Verteidiger der wahren Meinungsfreiheit, was ein Unterschied sei, die Meinungsfreiheit und die wahre Meinungsfreiheit, ein großer Unterschied. Um die wahre Meinungsfreiheit aber müsse es gehen, und nur um die. Die wahre Meinungsfreiheit gebiete, dass Religion im Schulgebäude verboten sei. Herkunft ebenso, Geschlecht erst recht. Erst wenn kein Kind mehr sich zu seiner Religion bekenne, sei die wahre Meinungsfreiheit erreicht. Erst wenn kein Kind das andere mehr auf seine nationale Herkunft anspreche, erst wenn kein Kind das andere mehr als Mädchen oder Junge wahrnehme, sei die wahre Meinungsfreiheit erreicht. Die Erleuchteten hatten bereits zu Zeiten des Jungen mit allen, auch disziplinarischen, Mitteln versucht, das Gelüg durchzusetzen. Sie waren hinhaltendem Widerstand begegnet, jetzt aber begehrten selbst die kleinen Schüler auf. Wo soll da die Logik liegen? fragten sie. Das soll die wahre Freiheit sein, wenn wir das Offensichtliche nicht ansprechen dürfen? Die klügeren Pädagogen – Oxymoron, ich weiß – fügten sich und erlaubten den Kindern, die frommen Sprüche oder Bilder oder Symbole ihrer jeweiligen Denominationen nebeneinander an den Wänden aufzuhängen. Manchen Eltern gefiel das nicht, unsere Religion ist die einzig wahre, wussten sie, oder eben: keine Religion ist die einzig wahre, oder sogar: keine Religion ist das einzig Wahre, aber sie kamen bei ihren eigenen Kindern nicht mehr damit durch.

Solcherart geschieht Wandel unter den Menschtieren. Es liegt auf einmal eine neue Gestimmtheit in der Luft, ein neues Handeln ein neues Denken setzt sich durch, niemand hat einen Befehl ausgesprochen, und dennoch klingt das Echo neuer Sätze unter dem Himmel, und die Kinder spitzen die Ohren und lauschen mit schwer zu deutender Unbeirrbarkeit. Die neuen Sätze mit dem neuen Klang erscheinen auf einmal als die richtigen Sätze. Als Sätze, die stimmen. Noch so wutiges Einreden der Alten fruchtet nicht mehr. Die schwimmen da auf einer neuen Welle mit, erklären sich die Alten die Sache. Das sind doch Machenschaften! wussten die Stiefel wussten die Mützen wussten die Taschen, wussten die Hocherweckten. Da steckt doch was dahinter! Geheime Steuerung! Die wissen ja gar nicht, was sie da machen! Werden gezogen wie am Nasenring, und begreifen das noch nicht einmal!

GOtt ist da irgendwo, sagten die Kinder. Irgendwo da draußen. Wie er wohl aussieht? Oder SIE? Das kann man gar nicht so genau wissen. Was steht denn in den Büchern?

Die Bücher waren über die elektronischen Spielzeuge längst allzuhanden, noch so behütende gar unterdrückende Eltern konnten den Zugang nicht mehr verhindern. Die Wecker höhnten noch von „Kinderkreuzzug““ oder wussten feinschmeckerisch, all diese Kinder folgen jetzt eben dem Gedanken an GOtt, wie sie sonst dem neu angesagten Popstar folgen, das machen die ganz bewusstlos, die machen einfach mit, die reflektieren das nicht, nun ja, reflektieren, das können die ja gar nicht, das kann nur unsereins, das Ganze ist eine Mode, hochinteressant, das gibt sich wieder, aber jetzt ist es Trend.

Es war nicht angesagt, es war nicht Trend, es war nicht Mode, es war die Wirklichkeit.

Es war die Revolution, von der die Leuchter immer geschwärmt hatten, es war der Umsturz aller Dinge, es war die neue Zeit, es war die religiöse Wende.

Das brillante Kind steckte mittendrin, trieb sich in den verschiedensten Tempeln diesseits und jenseits der Grenze herum. Jenseits der Grenze waren die Kinder nicht anders als diesseits. Da sie Kinder des elektronischen Zeitalters waren, suchten sie nicht nur nach GOtt, sondern wollten vor allem Bilder GOttes. Sie stöberten nach Bildern von Dämonen Heiligen Müttern Feen Göttern Drachen Frommen, was immer sie finden konnten. Außerweltlich musste es sein. Das Gefühl war allgemein, im Irgendwo ist eine Tür aufgestoßen worden, von draußen ist die aufgestoßen worden, von außerhalb, und von dort draußen schauen Wesen zu uns herein. Die können uns sehen. Und durch die offene Tür weht es Gedanken zu uns herein, Gedanken und Gefühle und Einsichten. Wir sind hier drinnen bloß in unserem Kinderzimmer, aber da draußen ist die weite Welt, und die Tür ist jetzt aufgegangen. Merkt ihr nicht auch, wie hell es auf einmal geworden ist? Das kommt durch die Tür herein, die Tür, die jetzt offen ist. Sie murmeln, die da draußen, sie sind so hell, so unheimlich, so wunderschön. GOtt ist da draußen. GOtt sieht uns.

Das brillante Kind wurde zum Star, weil es sich in den entlegensten elektronischen Foren und Archiven besser auskannte als in seinem eigenen Kinderzimmer. Die Kinder luden die Bilder herunter und zeigten sich gegenseitig, was sie gefunden hatten. Sie sammelten Gebete und Rituale und Anrufe aus den elektronisch archivierten Texten und trafen sich zu gemeinsamem Kult und riefen und beteten gemeinsam und lauschten, ob nicht Antwort sich melde, von der offenen Tür her.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 01.06.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)