Hausherr und Gast

Da war der Hausherr; und schläfrig glitt der Abend hinüber in die Nacht, nach langem Tagewerk.

Saßen da sechs Leute zusammen im Turmzimmer des Tischlers Bertram, sechs Leute, und sie genossen der Abendluft.

Kein Licht, flaches Dämmer von draußen her, aus dem dunkelnden Himmel, hingesunken ist die Sonne in den fernen Goldsee, der Mond noch nicht aufgegangen. Nachtfalter sind unterwegs, mit brummenden Flügelschatten.

Verwischter Schemen voll der runde Turm. Bleiche Ovale die Gesichter, darunter die schwingenden Handpflanzen. Murmelnd die Stimmen, treiben dahin auf den Gewässern der Dunkelheit.

Da war also der Hausherr, Dietrich. Große Gestalt mit schweren Muskeln, doch mager das Gesicht, mit scharfen Falten und schmalen Lippen. Blaue Augen, wasserklar. Von Alter wie Aslan … etwas jünger. Seine Frau, hockt am Boden unter dem Fenster, schweigt. Rundlich und gut, wohl jünger als er, mit schwarzen Augen, und schwarzen Haaren unter dem Kopftuch. Und Elisabeth, mit den harten, sehnigen Händen. Und Aslan und Roger, die Gäste, von den Wagen.

Also Dietrichs Frau hockt am Boden unter dem Fenster, verwischte Gestalt unter dem einfallenden Dämmer. Der Tischler Bertram steht die ganze Zeit, neben dem Ofen, lehnt sich gegen die Tür, die hinaus auf die Brücke führt. Manchmal verschränkt er die Arme über der Brust, manchmal lässt er sie hängen. Dann Dietrich und Aslan, sie sitzen auf Bertrams Bettstatt. Vor ihnen Elisabeth und Roger. Elisabeth sitzt auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, unbewegt. Roger hockt am Boden, gegen die Hobelbank gelehnt.

Der Tod ist im Haus.

„Er hat das Alter genommen“, sagte Elisabeth, „wir sollten nicht klagen.“

Der Hausherr rührte sich, er zog einen Fuß hinauf auf die Bettstatt, umfing das Gelenk mit beiden Händen. „Nicht klagen,“, wiederholte er ernst. „Doch auch nicht leichthin darüber hinweggehen. Einen Verlust hat das Leben erlitten, wir müssen es tragen. Geringer sind wir geworden in diesem Haus, und minderer … Leere ist geworden, wo vorher ein Sein war, und hüten wir uns, dass sie nicht weiterfrisst, denn ein gefräßig Ding ist die Leere, greift um sich, wo sie einmal Fuß gefasst hat, drum hüten wir uns …“

„Hüten wir uns“, respondierten sie alle.

„Und in den Herzen sei die Fülle“, fuhr Dietrich fort, „dass sie sich ausgieße und das Haus erfülle, dass der Tod nicht weiterforscht an dieser Stätte.“

„Reich hat uns Vautrin gesegnet mit Antonias Kind“, erinnerte Elisabeth. „Er hat das Leben gesetzt vor den Tod, dass wir ihn leichter ertragen. Des sei ihm Lob.“

„Des sei ihm Lob.“

„Reich ist dein Haus und vermag aus dem Überfluss“, sagte Aslan zu dem Hausherrn, „und wohlbehaust ist hier das Leben, die Furcht mag fernbleiben euren Herzen …“

„Das Leben hat keinen anderen Schutz als das Leben“, erwiderte Dietrich ernst. „Nur das Fleisch wehrt dem Tod, arm und schwach wie es ist, das nackte Fleisch, und die Sehnen und Adern. Seht, wir sind anheimgegeben Vautrins Welt, und die bloße Haut und der drängende Wille stehen gegen die Eisen und Knüppel des Todes, er ist der Feind, der lauert zur Winternacht …“

Aslan schüttelte den Kopf. „Nein, Bruder Dietrich“, sagte er, „so ist das nicht … die Menschen sterben, die Tiere und Pflanzen sterben, alle Dinge sterben, sogar die festen Felsen, die gemacht scheinen für die Ewigkeit. Das ist die Zeit, das kleine Stück von der Zeit, das in allem Ding ist und es ausfüllt, dass es gemäß sei seiner Bestimmung, und dahingehe zu seiner Zeit … nichts vermögen wir daran zu ändern …“

„Dies ist der Glaube vieler“, sagte Dietrich, „gern halten sich die Kaufleute und Reisenden daran, ich weiß es wohl, sie sehen die Dinge kommen und gehen und vorüberfließen wie einen Strom, in unaufhörlichem Wandel. Doch der Kaufherr, er bebaut das Land und sieht die Festigkeit der Dinge, und sieht die Schmerzen, wenn sie dahingehen sollen, glaub mir, Bruder Aslan, kein leichtes Ding ist das Dahingehen, da schreit das Fleisch und wehrt sich, oh ja, und kämpft, und bittere Not ist der Kampf … das ist der Tod, der böse Tod, der umhergeht in der Welt, und große Macht ist ihm gegeben über die Menschen und die Tiere und die Dinge, große Macht, dass er sie schlage und sie seien ihm untertan …“

„Nur Vautrin ist in der Welt“, widersprach Aslan, „Bruder Dietrich, nur Vautrin ist in der Welt, und alle Dinge sind in Vautrin, denn sie sind Geschöpfe seines Willens. Und jedem Ding hat er beigefügt sein Werden und Vergehen, und aus jedem Vergehen wird neues Werden … dunkel ist deine Sicht, Bruder Dietrich, und erschreckt mich und flößt mir Furcht ein. Ist der Tod in der Welt, so hat er Macht nur von Vautrin, er kommt, wenn die Tage erfüllt sind eines Menschen, und hilft und steht bei, dass die Verwandlung leichter vor sich gehe … das haben mir die Menschen erzählt, unten im Süden, ja, der Tod ist ein leichter Geist, wie ein Windhauch, er umweht die Dinge, und wenn er sieht, dass eines Zeit erfüllt ist, so kommt er herbei und trägt das Wesen davon, dass das Ersterben schmerzlos sei, und alles Ding ende seinem Gesetz gemäß. So sind die Welt und die Tiere und die Menschen und die Dinge alle umflossen von Tod, und der Tod gebiert das Leben, und macht die Verwandlung leicht … so erzählten sie mir, die Menschen im Süden.“

Sie schwiegen eine Weile, dunkel war es geworden im Turm, im Osten glitzerten schon Sterne.

„Ein gepanzerter Reiter ist der Tod“, hub Dietrich von Neuem an, „ein gepanzerter Reiter mit schwerer Faust und hartem Eisen, das zertrennt die Wesen. Er reitet durch die Welt und sucht seine Beute, und schlägt und vernichtet. Drum müssen wir auf der Hut sein und uns stellen dem Kampfe, dass wir nicht unterliegen. Und fällt die Faust hernieder auf uns, so müssen wir uns wappnen und zur Wehr setzen, dass nicht das Nichts über uns komme und die Leere, denn die Leere ist ein gefräßig Ding, vernichtet das Sein …“

„Unendlich ist die Fülle der Welt, und unendlich sind die Schöpfungen Vautrins“, erwiderte Aslan. „Geht ein Ding dahin, drängt ein anderes herbei, seine Stelle auszufüllen. Dies ist mein Wissen, Bruder Dietrich, und ihr anderen alle, unendlich ist die Fülle der Welt, größer noch als jedes Vergehen, und aus jeder Vernichtung quillt Leben hervor, gedoppelt und gedreifacht, dass der Tod die Fülle noch mehrt. Das ist das Geheimnis von Vautrins Schöpfung: jedes Vergehen und Dahinscheiden schafft Raum, in den tritt das Leben ein mit größerer Fülle, dass die Welt noch gemehrt sei … und nicht endet je Vautrins Welt, sondern nimmt zu an Größe und Pracht und Kraft, und der Tod ist ein Mittel, die Dinge zu mehren. Deshalb sage ich: es gibt kein Wesen wie den Tod, es gibt nur Verwandlung, und alles, was ist, wandelt sich nach Vautrins Gesetz, dass es neue Dinge erschaue und eine neue Welt.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 31.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)