Angst und Erwartung

Angst und Erwartung

Die Menschen begannen rund um den Globus gebannt auf den Markt zu schauen, was der ihnen an Möglichkeiten bieten würde. An Gedanken, an Weisungen, an Hoffnungen. An helfenden Produkten helfenden Ansagen. Helfender Rat war gefragt, überall, und man ahnte, auf dem Markt werden wir ihn finden.

Die elektronischen Spielzeuge wurden zum Schibboleth des Marktes, wie es auf dem Kontinent des Jungen einst die Bibliotheken gewesen waren. Alle Meinungen alle Gedanken alle Ideen, hier waren sie frei verfügbar, hier konnte jeder frei sich äußern, hier konnte jeder sich kundig machen. Was wird gesagt? Was wird gedacht? Was wird gemacht?

Es kamen Jahre, da begann die freudige Erwartung, wenn die Menschen an das Morgen dachten, die Angst vor eben diesem Morgen zu überwiegen. Ein vage, schaukelnde Gestimmtheit kehrte ein in die Gefühle der Menschen, und die Stimmung sagte: Müssen wir wirklich Angst haben, nur weil wir nicht wissen, was morgen sein wird? Haben wir nicht das Recht, uns auf das Unerwartete zu freuen?

Das Toben der Planer lief zunehmend ins Leere. Sie waren auf die Angst der Menschen angewiesen, allein die Angst legitimierte den Zwang des Plans, der Plan versprach ja, folgt, und ihr werdet immer wissen was morgen geschieht! Was morgen zu geschehen hat! Was ihr morgen tun werdet!

Die Menschen aber begannen zu sagen: Wollen wir gar nicht. Wir wollen nicht wissen, was morgen geschieht. Wir wollen uns überraschen lassen. Wir wollen uns freuen auf die Überraschung. Und wenn es mal eine böse Überraschung ist, was solls! Wir helfen uns gegenseitig und bringen unsere Ideen auf den Markt, wie Abhilfe zu schaffen sei. Wird dann schon gehen! Ist bisher immer gegangen!

Weite Teile des Planeten lagen zu dieser Zeit immer noch unter der Gerechtsame bartbrüller Zwangsplaner, die wussten sich im Besitz der wahren Wissenschaft der wahren Religion der wahren Weltanschauung der wahren Gesetzgebung, aber sie verstanden selber, ihre Zeit neigte sich dem Ende zu, und dann geschah diese Sache mit der Aufklärung.

Der Aufklärung über das Hocherleucht.

Es begann im Lande des Jungen, da war der, wie gesagt, schon zwanzig Jahre tot.

Ein brillanter junger Kopf erwuchs in Grenznähe, Nähe zu dem westlichen Nachbarland. War vielleicht ein bisschen einsam, aber kein Außenseiter, wie es der Junge einer gewesen war. Erfolgreicher Schüler aus behütendem Elternhaus. Die Eltern wunderten sich über die Begabung des Kindes, die äußerte sich in rastlosem Lesefleiß, und der wieder richtete sich auf Vergangenes. Wo hat das Kind das nur her? Der Vater war Inhaber eines Elektronikmarktes, die Mutter Chefin des örtlichen Kindergartens. Durch übertriebene intellektuelle Regsamkeit fielen beide nicht auf, aber das Kind hatte immer die neuesten elektronischen Spielzeuge zur Hand. Das Kind interessierte sich nicht für die Spielkonsolen, sondern für die Lesegeräte, für den Zugang zu den elektronischen Archiven. Zugang zur Vergangenheit. Sprachbegabt das Kind. Wo das Kind das nur herhat? Die Grenze zum westlichen Nachbarland war nahe, unbewachte Grenze längst, und das brillante Kind sog die anmutige Nachbarsprache auf, ohne nachzudenken, begann zu plappern in den fremden Lauten, ohne dass einer gewusst hätte, wie sie dem Kind zugeflogen waren. Vorteil nachher in der Schule. Dort wurde die Sprache des Kontinents von jenseits des Ozeans gelehrt, die Sprache des Nachbarlandes war dem Kind vertraut, die Sprache von Mama und Papa sowieso. Dann war da noch die alte Sprache zu erlernen, die Sprache des alten Imperiums, das einst den Kontinent beherrscht hatte, die Sprache der alten Kirche, die Sprache der Gelehrten auf dem Kontinent über anderthalb Jahrtausende. Wer mit den Archivalien der Vergangenheit umgehen wollte, musste die alte Sprache meistern. Fiel dem brillanten Kind nicht schwer, viel leichter, als es damals dem Jungen gefallen war. Im Gegensatz zu dem Jungen machte das brillante Kind seine Hausaufgaben, das brillante Kind brachte nur gute Noten nach Hause. Man sagte so. Das Kind bringt Noten nach Hause, so hatte man schon zu Zeiten des Jungen gesagt. Das brillante Kind ließ es nicht darauf ankommen, mit seiner Brillanz unangenehm aufzufallen, es gab Schülern in seiner Klasse, deren Versetzung „auf der Kippe“ stand, unentgeltlich Nachhilfeunterricht, und half manch einem schwierigen Fall über die Runden. Literatur, Musik, Kunst, das war nicht so sein Ding. Nur die Vergangenheit. Seltsam. Fuhr mit dem Fahrrad, nachher mit dem ersten eigenen Auto hinüber in die runzeligen Städtchen im Grenzgebiet, schaute mit sonderbar forschendem Blick die alten Häuser nicht an, sah vielmehr in sie hinein, wie einer in Gesichter späht. Da ist was, dachte es in dem brillanten Kopf, ich will das rauskriegen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 29.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)