Dass die Mützen genuines Leuchtergewächs gewesen seien, war unstrittig. Deshalb redete man über ihre Verbrechen ja so ungern. Hocherweckte Menschen sind gute Menschen, wusste es in den Hocherweckten, und was gute Menschen in Verfolg ihrer guten Ziele tun, das kann doch kein Verbrechen sein? Sind vielleicht mal über das Ziel hinausgeschossen, diese guten Menschen, in ihrem Eifer für die gute Sache. Kann ja mal passieren. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Das macht das Projekt der Hocherleuchts nicht wertlos, aber hallo, da stellen wir uns hin!
Auch die Ziele der Taschen waren Weckergut, keine Frage, da war man ganz dabei, ganz dafür.
Aber die Stiefel?
Den Hocherweckten war es gelungen, ohne eigentliche Begründung, nur durch anhaltende Propaganda, durch anhaltendes Behaupten, vor allem Platzbehaupten, die Stiefel als das Schwarz zum Weiß der Weckerwelt zu etablieren.
Das Hochgeleucht ist die Moderne, und gegen die Moderne steht alles Stiefeltum. Einfache Sache.
Die einfache Sache war eine einfache Lüge.
Es war regelmäßig erst nach den Toden des Jungen so weit, dass der Rumor immer lauter wurde. Der Rumor legte eine neue Überlegung auf den Tisch. An dem Tisch hatte mittlerweile die ganze Menschheit Platz genommen. Die Überlegung sagte: Nicht Hocherweck und Stiefel stehen sich seit zwei Jahrhunderten gegenüber als Moderne und Antimoderne, sondern Markt und Plan.
Es wurde diskutiert und gestritten, mit großem Eifer. Aus der Welt schaffen ließ sich die neue Einsicht nicht mehr. Einsicht, die im Laufe weniger Jahre Schlüsselfunktion sich eroberte, zur Deutung der unmittelbar vergangenen zwei Jahrhunderte auf dem Planeten, und zur Deutung dessen, was voran lag auf dem Weg, auf dem Weg in die globale Zukunft.
Der Markt ist die Moderne, der Plan die antimoderne Revolte.
Plan ist alles, was sich im Besitz der finalen Wahrheit wähnt. Plan ist alles, was heute das Verhalten der Menschen festlegt schon für morgen und für alle Zeit. Plan ist alles, was die Geschichte an ein Ende bringen will. Plan ist alles, was behauptet, finale Offenbarung zu sein. Plan ist Durchwusstheit und Durchdrungenheit. Plan ist alles, was letztgültige Gesetze statuiert. Gesetze, nie wieder zu befragen nie wieder zu ändern. Plan ist alles, was als finale Wissenschaft auftritt, als letztgültige Ordnung. Plan ist alles, was sich die einzig wahre Religion weiß. Plan ist alles, was das Paradies auf Erden verspricht. Plan ist alles, was sich als Offenbarung GOttes ausgibt. Plan ist alles, was auftritt und sagt, Ende der Diskussion. Plan ist alles, was bedingungslosen Gehorsam einfordert. Plan ist alles, was im Gegenzug zu bedingungslosem Gehorsam bedingungslose Fürsorge verspricht. Plan ist alle Gemeinschaft, die keinen Austritt mehr erlaubt.
Dem Plan gegenüber steht der Markt.
Der freie Markt, da ein jedes Menschwesen kommen und seinen Stand aufschlagen darf. Hier seine Ideen anzubieten, seine Meinungen, seine Vorschläge. Seine Waren und Entwürfe. Seine dummen Einfälle, die vielleicht die Welt verändern werden. Seine Planskizzen und unvollendeten Träume. Seine Blaupausen. Seine Erfahrungen und Kenntnisse und Expertisen, seine Fertigkeiten. Seine Talente. Seine Schnapsideen. Der Markt, da eine jede Gemeinschaft ihre Bude aufschlagen darf, aber das Zelt nebendran dulden muss, und auch die neue Baracke um die Ecke, oder den Kristallpalast. Der Markt, da jeder jede Halle betreten darf, und sie wieder verlassen, wenn es ihm gefällt. Und niemandem Rechenschaft ablegen muss, noch Angst haben, dass ihn einer verfolgt. Der Markt, da Sinn angeboten wird in großen Ballen, indes die Marktwächter aufpassen, dass niemand von der Brücke geworfen wird. Oder von der Brücke springt, in blindem Augenblick. Der Markt, da der Schauspieler, der den Propheten darstellt, die gleichen Rechte hat wie der Prophet selbst, indes die Marktgänger darauf vertrauen dürfen, die freie Rede und freie Diskussion auf dem Markt werde schon offenbaren, auf die Länge, wer wer ist und wer nicht. Der Markt, da die Besucher und die Anbieter sich jederzeit an jeder Ecke frei zusammenrotten dürfen und bereden, was man von den neuen Waren den neuen Ideen zu halten habe. Der Markt, da Grenzen vorzuschlagen jedem erlaubt ist, willkürlich Grenzen zu ziehen, keinem.
Das war der große Antagonismus auf dem Planeten Erde. Das waren die beiden Vorschläge, die beiden Entwürfe, über die zu entscheiden war. Das war die Alternative. Markt oder Plan.
Markt oder Plan?
Markt bedeutet Offenheit, Plan bedeutet Durchdrungenheit.
Auf dem Markt bewegen sich die Geltenlasser, mit dem Plan operieren die Durchwussten.
Auf dem Markt werden interessiert die Maßstäbe aller zur Kenntnis genommen. Der Plan kennt nur einen Maßstab, seinen eigenen, und nach dem beurteilt er alle und alles.
Der Markt ist offen für alle. Der Plan massakriert alle, die sich nicht unterwerfen.
Markt ist die Diskussion, Plan ist die Verfügung.
Was wollen wir?
Eine globalisierte Menschheit erkannte ihre Geschicke umso leichter wieder in diesem Schema, als es auf alle Völker des Planeten anwendbar war, auch als Zukunftsweisung. Die Entgegensetzung von Hocherweck auf der einen Seite und Stiefelreaktion auf der anderen war vergleichsweise eng gewesen, hatte sich bezogen auf Ereignisse, die bedeutsam gewesen waren im Wesentlichen nur für den Kontinent, da, von niemandem beachtet, der Junge seine Leben gelebt hatte. Die Gegenüberstellung von Markt und Plan aber vermochte allen Völkern auf allen Kontinenten etwas zu sagen, umso mehr, als die Anhänger des Plans auch angesichts dieses neuen Geschichtsmodells stur dabei blieben, nicht so sehr auf Argumente zu bauen als vielmehr auf dumpfe Brutalität. Sie bestätigten damit die Stimmigkeit des Modells. Die mit dem Plan sind die von gestern, die mit dem Markt sind die von morgen, versprach das Modell. Der Markt ist der Raum des Neuen, der Raum auch der Abhilfe. Der Plan ist der Raum des Festgelegten. Im Horizont des einmal etablierten Plans kann Neues nichts mehr aufscheinen, alles ist schon gesagt.
Der globalen Menschheit war aber nach Neuem. Es muss besser werden, hieß es allenthalben. Wie? Wissen wir nicht. Aber anders. Es muss alles anders werden, damit es besser wird.
Der Raum, in dem das Andere und Bessere auftauchen konnte, war der Markt.
Freier Markt der Meinungen, freier Markt der Gedanken und Ideen, freier Markt der Waren.
Das Andere das Bessere würde neu sein. Unvorhergesehen. Würde etwas sein, an das man jetzt noch nicht dachte. Es würden Dinge kommen, die hatte man nicht vorhergesehen, und eine aufbrechende Menschheit fühlte: Gut so.
Große Dinge kommen auf uns zu.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)