Am Ende I

„Ja, es ist dunkel hier, dunkel, schmpff. Versuch halt, die Augen aufzumachen … nicht? Ein bisschen, einen Spalt, siehst du, du schaffst es.

Jetzt liegst du da und siehst mich an. Weiß schon, was in dir vorgeht, hehe. Ist immer so. Liegen da und schauen. Schauen. Langsam dämmert‘s im Hirn, die Augen glotzen, das dauert lange, lange, und endlich verstehen sie.

Ja?

Siehst du, jetzt hast du mich erkannt, hehe. Na, bitt dich, schmpff, kein Geschrei, keine Tränen, bitte. Weckst die Leute. Die dicke fette Grand Mère da, die so viel Künste weiß, und da drüben der Alte, na, den stört nichts mehr, schmpff. Ja, jetzt ist‘s besser, jetzt bist du ruhig. Liegst da und guckst mich an aus deinen grauen Augen, so ist‘s recht, wir machen das aus unter uns, ganz ruhig. Kein Aufheben, schmpff, wozu auch. Lohnt ja nicht. Hat nie gelohnt, hehe.

Wie ich hierher gekommen bin? Na … Geschäfte, sagen wir, Geschäfte, schmpff. Das verstehst du doch? Muss du ja verstehen, Kaumannsfrau.

Ach, die Nacht … übrigens, hast du was dagegen, wenn ich etwas näher komme, dorthin, auf die Bettdecke … wie? Ja? Schade. Es ist so unbequem, hier auf dem Bettpfosten, hehe, aber wenn du nicht willst … ich hab auch schon unbequemer gesessen, glaub mir, man gewöhnt sich an alles. Ein alter Mann bin ich, schmpff, du würdest nicht glauben, wie alt, ich sag‘s dir lieber nicht, ich hab schon die ganze Welt gesehen, überall hab ich meine Geschäfte gehabt, schmpff, die Geschäfte, und‘s nimmt kein Ende, so ist das …

Was ist los mit dir? Du weinst? Doch, ich seh’s doch … da ist eine Träne, schauschau, jetzt rollt sie über die Wimpern und die Wange hinunter, ja, so ist das, ich würd sie dir abwischen, aber du willst ja nicht, dass ich näher komme.

Nun also, schmpff. Wo war ich doch gleich? Ach so, die Geschäfte. Ja, wie du siehst, Geschäfte und Arbeit, und kein Ende des Weges. Ich hab nicht einmal Zeit, anständige Kleider anzuziehen … ich weiß schon, das Loch in meiner Hose, das Knie guckt durch, du brauchst gar nicht so missbilligend zu schauen, ich weiß es selber, schmpff, aber find du mal jemanden, der mir die Hose stopft, in meiner Lage, hehe … macht niemand. Sieht ja wirklich nicht schön aus, das zerrissene Hosenbein, und ich hab spitze Knie, das glotzt ordentlich durch, hehe, so ist das nun mal, ich war schon immer ziemlich — sagen wir — klapperig, je, hehe, das ist das Wort, klapprig, schmpff.

Du bist anders. Eine hübsche Frau, ich hab dich angeschaut, ja, eine hübsche Frau, kein Mädchen mehr, aber noch glatt die Haut, volle Brüste, runde Arme … hehe, das ist schon was andres, aber wenn man mal so alt ist wie ich …

Wie? Ich soll dich nicht so ansehen? Ah, du schämst dich … wozu, schmpff. Sagte schon, ich bin ein alter Mann, hab alles schon gesehen, alles, und mehr noch, als du denken kannst, ja.

Nein, nicht einschlafen. Lass die Augen auf, nur einen Spalt, das reicht schon. So ist‘s gut. Ich will ja mit dir reden, oh, nichts Besonderes, nur ein bisschen plaudern, wenn man alt ist, wird man geschwätzig, hehe, so ist das, da sitzt man gern und redet so daher, nur so, wie’s gerade kommt, schmpff.

Wie?

Vautrin. Sie ruft nach Vautrin. Na ja. Also wenn du‘s genau wissen willst: Ich hab die Leute schon ach so vielen rufen hören … kannst du dir gar nicht vorstellen. Und immer gehen die Geschäfte weiter, denn, wie sagt doch dein Mann? Endlos sind die Wege des Kaufherrn, das sagt er, da hat er recht, hehe. Und du schreist also nach Vautrin, dass er dir hilft. Weißt du, meine Gute, das Beste ist immer noch, du hilfst dir selbst, wenn du kannst … wenn du kannst, schmpff. Nicht, dass ich etwas gegen Vautrin einzuwenden hätte, bewahre, hehe, er ist so gut wie jeder andere, ja, so gut wie jeder andere, ich hab alle gesehen.

Unbequem hier auf dem Bettpfosten, wirklich … aha, die dicke Grand Mère rührt sich … schnarcht auf … schläft weiter, hehe, hat einen gesunden Schlaf, die alte Frau, beneidenswert, schmpff.

Sch – du willst sie doch nicht wecken, lass ihr die Ruhe, schmpff, sie hat sie verdient, und überhaupt, wo wir doch so nett miteinander plaudern – wie unruhig du bist! Wenn ich dir sag, es hat keinen Zweck, dass du zappelst – würdest du mir dann glauben? Ah, du beruhigst dich wieder, das ist gut, so ist‘s recht, ich kann Scherereien nicht leiden . was? Da tust du mir Unrecht, mein Kind, schweres Unrecht, schmpff, saubere Sache, klares Geschäft, so hab ich‘s gern, denn was hätt ich davon, großes Getue, Aufwand, Geschrei … ist doch alles meine Arbeit, kostet nur Zeit … aha, das leuchtet dir ein. Na siehst du, bist doch ein gutes Mädchen, hab‘s ja gewusst.

Also wo waren wir … bin ein alter Mann, wie gesagt, im Alter, da wird man vergesslich, aber keine Angst, mir fällt alles wieder ein, dauert vielleicht ein bisschen länger, aber es fällt mir wieder ein, hehe, ich hab noch niemanden vergessen, auch wenn sie das gelegentlich behaupten, he, schmpff, dummes Geschwätz, es wird ja so viel geredet in der Welt, kann mich wirklich nicht drum bekümmern, schmpff …

Ach ja, siehst du, jetzt hab ichs wieder: Vautrin. Wie? Jaja, doch, hab ihn schon gesehen, klar … war dabei, wie er gemacht wurde, sozusagen, und den anderen, den hab ich noch viel besser gekannt, den großen, fernen, dessen Namen ihr nie aussprecht … na ja, ich erzähl’s dir lieber nicht, würdest es ja doch nicht glauben, armes Mädchen.

Ach, was weißt du, was es alles gibt zwischen Himmel und Erde, und drüber hinaus, und ich alter Mann, ich muss immer laufen und sehen, dass ich nachkomm mit meiner Arbeit … aber ich darf nicht undankbar sein, schmpff. Was soll ich dir sagen, es hat schon Zeiten gegeben, da hätt ich nicht so hier sitzen können und mit dir plaudern, was doch sehr angenehm ist, neinnein, da musstes ruckzuck gehen, aber da war ich auch noch jünger … würd ich gar nicht mehr schaffen, heute, schmpff. Heut, du siehst ja, da bin ich ein alter Mann, ders gern gemütlich hat, ja, gemütlich, ein bisschen nachlässig schon mit der Kleidung und so, hehe. Ja, heut nehm ich mir die Zeit, setz mich ein bisschen zu den Leuten, guck sie mir an, hehe, lass sogar mal mit mir reden, ja, schmpff, das tu ich, deswegen bin ich hier.

Weißt du, wenn ich nicht so gutmütig wär, würd mich das direkt kränken, wirklich, du liegst da und starrst mich an, als wär ich … hehe, als wär ich ich weiß nicht was. Richtig Angst hast du vor mir, schmpff, könnt direkt anfangen, mich vor mir selber zu fürchten, so wie du mich anschaust, schmpff, Panik …

Ja, jetzt bin ich aber hier, und ich bin doch eigens gekommen, ein bisschen mit dir zu plaudern … also reden wir über dich, nur Ruhe, es wird schon gehen … du glaubst gar nicht, was du alles kannst, du wirst staunen.

Leben? Schmpff. Liebes Kind, du müsstest dich selber sehen. Du wirst nicht mehr schöner, weißt du. Von jetzt an … na, eine Zeitlang geht’s vielleicht noch, aber dann kommt das Alter, kommt Krankheit, Gebrechen, du ächzt und lahmst, da klappert die Krücke, faltig wird die Haut und schlapprig und trocken, da bist du grau, und du riechst aus dem Mund. Zwei schrumplige Lappen die Brüste, welk und mager, hängen runter bis auf den Nabel, schmpff, wirst du keinen Grund mehr haben, stolz drauf zu sein … doch, hehe, mach mir nichts vor, natürlich bist du stolz auf deine runden Sachen … aber das geht vorbei, ich sags dir. In den Därmen wird’s blähen und rumpeln, und immer schwieriger wird’s, es zu halten, guckt her, da sitzt die alte Frau Magdalena in ihrer Ecke, hört ihr, wie sie furzt? Und das ist noch Glück, wenn‘s so wird, gern bleiben bei den Alten die Fürze stecken, dann kneift‘s und rumpelt‘s in den alten Därmen, und sie winden sich und jammern und ächzen und fluchen Vautrin, ja, hehe, hab ich alles schon gehört. Und auch die Pisse kommt, was denkst du, wird alles undicht, ja, heute, da ist es noch was anderes, wenn du am Abend dein Höschen ausziehst, da ist es blütenweiß und trocken … wenn dich nicht einer zu langte gestreichelt hat, hehe … aber nicht lange, da ist es gelb und stinkt, da rinnt‘s den ganzen Tag, immer mal wieder ein Tropfen, und du miefst, merkst es selber nicht mehr, aber wenn sie mit dir sprechen, da treten sie einen Schritt zurück, schmpff, und du gehst ihnen einen Schritt hinterher, weil du nämlich nicht mehr gut hören kannst, und dann bringst du dein zahnloses Maul, da kleben noch die Brotkrümel dran, vom mümmelnden Frühstück, also da bringst du dein Maul ganz dicht ran an die anderen Gesichter, weil du nämlich auch nicht mehr gut sehen kannst, hehe, und was siehst du da, in den glatten jungen Frätzchen? Den Ekel siehst du da, es graust sie vor dir, so ist das, mein armes Mädchen, schmpff. Und der Speichel sabbert dir raus zu den Lippen, und die Augen tränen, einfach so, und der Kopf nickt und wackelt, kannst ihn nicht mehr stille halten, hehe … und der Arsch erst, schmpff, oh über die Gnade Vautrins, dass du dich nicht von hinten sehen kannst. Ja, heute, da denkst du dir nichts, hehe, da gehst du her vor einem Mann, und der guckt und schaut und denkt, was für ein niedlicher Hintern, schmpff, appetitlich, wie sich‘s wiegt und auf und ab bewegt, die rundliche Fülle – dochdoch, seh ich auch immer noch gern, und du weißt genau, dass die Männer hinter dir her schauen, natürlich weißt du das, schwindle nicht, und gar nicht so selten die Frauen auch, naja, hehe, das ist ein Kapitel für sich, ich misch mich da nicht ein, hab mir nur das Gejammer anzuhören, wenn sie‘s immer gern hätten tun wollen, und jetzt ist es zu spät … also, wo war ich, ja richtig, der Arsch: in Falten wird er runterschlottern, zwei nassgewordene Kartoffelsäcke, so wird’s aussehen, und dazwischen klebt die Scheiße, von vorgestern, festgetrocknet, weil du dich nämlich nicht mehr richtig abwischen kannst, dazu sind die alten Knochen nicht mehr beweglich genug, stocherst immer nur kurz rum, langst gar noch mit den Händen rein, dass du stinkst, und dann rasch das Höschen wieder hoch, schmpff, weil dir nämlich kalt ist, heut würdest du lieber frieren als stinken, hehe, aber wart nur, morgen ist das umgekehrt …

Siehst du, so wird das sein, schmpff, könntest du alles anders haben, na, mir kann‘s ja egal sein, deine Sache …

Überleg‘s dir gut, wer weiß, vielleicht lass ich mir Zeit das nächste Mal, und dann wirst du fluchen und jammern und schreien, ich hätt dich vergessen, hehe, also überleg‘s dir gut …

Na, also, dann reden wir doch mal von deinen Leuten, schmpff. Du hältst dich für unentbehrlich, was, mein gutes Mädchen? Was du denkst, hehe.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)