Alles Hantieren mit den Instrumenten aber half nicht, dass verstreut die Zweifel am Hochgeleucht immer lauter wurden. Nicht einfach nur Zweifel an den Stiefeln, den Mützen, den Taschen. Nein. Grundsätzliche Zweifel. Zweifel am Hochgeleucht selbst. Die Zweifel betrafen das Offensichtliche. Denn wenn es um das Offensichtliche geht, nagen am Menschtier zuallererst die Zweifel. Die einfache Wahrheit war, Stiefeldenk und Mützendenk waren genuine und echtbürtige Kinder des Hocherwecks, die Deszendenz war verfolgbar in gerader Linie, und das tobsüchtige Taschentum zur Zeit des Jungen war Denke aus gleichem Schoß wie Stiefeldenk und Mützendenk. Hätte die religiöse Wende dem Spaß nicht ein Ende gemacht, wer kann wissen, welch Ungeheuer sich den Mützen den Taschen den Stiefeln noch zugesellt hätte? Der Schoß war fruchtbar noch, aus dem das kroch. Die Nähe zu Mützendenk und Taschendenk war den Hocherweckten nicht unangenehm, im Gegenteil, sie umarmten diesen Gedanken. Sie konnten sich in Wärme argumentieren, wenn es mit den Mützen gegen den Markt ging, und für die Wohltaten des Plans. Zu hören, dass die Pressbengels bei solcher Hitzeerzeugung vorweg trabten, muss euch nicht überraschen. Die Pressbengels bekannten sich in ihrer überwältigenden Menge „zu den Idealen des Hochgeleuchts“, und betrachteten ihre Profession wesentlich als aufgerufen, Erweckungspropaganda zu betreiben, wo nicht gar ganz unverhüllt Erweckungspolitik. Parteilichkeit war das selbstverständliche Handwerkszeug des Pressbengels, es wurde nicht nur kommentiert, sondern vor allem berichtet, wie es in den Kram passte. Das Aufkommen der elektronischen Spielzeuge sorgte dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, und dass die Bengels mit der neuen Situation sich gar nicht anzufreunden vermochten, habe ich schon mehrfach erwähnt. In den elektronischen Spielzeugen entdeckten erstmals die Millionen, die Milliarden! dass die Welt eine gar andere war, als sie sich in den Medien der Pressbengels darstellte, oder lasst es mich ganz einfach sagen, dass die Welt der Pressbengels eine erlogene Welt war, eine Welt, die es in der Wirklichkeit gar nicht gab.
Dass das Stiefelunwesen womöglich ein Integrativ der Leuchterwelt gewesen sein könnte, war der Brocken, den die Erleuchteten gar nicht schlucken mochten. Alles, nur das nicht. Aber der idiotische Rassen- und Veredelungskult der Stiefel war genuines Leuchtergewächs gewesen. Man hatte sich ja nicht auf irgendeine okkult geoffenbarte Spinnerei berufen, sondern auf das, was „geltende Erkenntnis der Wissenschaft“ gewesen war. Nicht anders hatten die Mützen argumentiert. Ist alles wissenschaftlich bewiesen! Die Feindschaft zwischen Mützen und Stiefeln war nicht die Feindschaft zwischen Gegnern, sondern die Todfeindschaft zwischen Konkurrenten. Genuine Kinder des Hocherleuchts waren sie alle, und das Hocherleucht ihrer aller Mutter. Sie suchten sich gegenseitig zu überbrüllen. Unser Ding, das ist jetzt wissenschaftlich bewiesen! Alles wissenschaftlich belegt! Der Gedanke, das Menschtier solle sich seine moralischen Entscheidungen besser nicht von dem vorschreiben lassen, was die Wissenschaft jetzt wieder rausgekriegt habe, sondern einfach auf IHRE Stimme hören, IHRE weiße Stimme, verursachte den Erweckten regelmäßig Schnappatmung. Die erleuchteten Mützen und Taschen zur Zeit des Jungen, ja selbst die neuen oder die alten Stiefel, sofern noch welche überlebt hatten, nahmen den Begriff „lebensunwertes Leben“ nimmer in den Mund, wohl aber zur Richtschnur, indem sie gegenüber menschlichem Leben die Kultur der Mülltrennung praktizierten, ich habe das schon kurz angedeutet, werde darauf bei Diskussion der verzweifelten Suche nach der Großen Vereinheitlichenden Theorie, wie sie nachher den Doyen und die Konzentranze und den Eleganten in Atem halten würde, noch zurückkommen. Die gleichen Wecker, die sich über das Morden der Stiefel entrüsteten, begluckten die millionenfache Tötung der Ungeborenen als freies Verfügungsrecht der Frauen über ihre Körper, wohl wissend, dass es dabei nicht allein um die Körper der Frauen, sondern vor allem um die schutzbedürftigen Körper der wehrlosen Ungeborenen ging, und statt zuzugeben, dass hier ein ethisches Dilemma vorliege, dem man nicht auflösend, sondern nur helfend würde begegnen können, verlegten sie sich auf die allereinfachste Lösung, eben jene, die auch schon den Stiefeln und den Mützen sowohl Lösung als auch Allheilmittel für alle Probleme bedeutet hatte, nämlich den Massenmord, und den praktizierten sie unter einem öffentlichen Schweigen, des Dröhnen das eifrige Reden über die Stiefelmorde bald verschlingen würde, der Junge sollte das nicht mehr erleben. Was sie bei den Stiefeln als „Zivilisationsbruch“ anprangerten, das betrieben die Hocherweckten selber, den Massenmord an Wehr- und Hilflosen. Sie hatten schon von den Genickschussanlagen gewusst und hatten über die Genickschussanlagen geschwiegen, gleichzeitig, stets hatten sie Schweigen bei gleichzeitigem Wissen implementiert, wenn es um die namenlosen Verbrechen der Mützen ging. Global umfasste die Zahl der Menschwesen, die Mützenmassakern zum Opfer gefallen waren, wohl das Zehnfache dessen, was die Stiefel in der Kürze der ihnen vergönnten Zeit zu leisten imstande gewesen waren. Jeder wusste das zur Zeit des Jungen, in jeder Bibliothek konnte man das nachlesen, erst recht in den elektronischen Spielzeugen. Wurde darüber geredet? Nur widerwillig, wenn überhaupt. Man wusste, und wusste doch nicht. Die Opfer der Mützen waren irgendwie ein blinder Fleck. Die Opfer des Großen Aborts erst recht. Und deren Zahl umfasste noch einmal das Zehnfache dessen, was auf dem Konto der Mützen zu Buche geschlagen war. Bei der Glocke aus dröhnendem Schweigen, gestülpt über die Mützenverbrechen, standen kollektiv die Hocherweckten Schmiere, die Mützen allein hätten nicht die Macht gehabt, solch wissendes Schweigen solch schweigendes Wissen durchzusetzen. Wer, zur Zeit des Jungen, die Verbrechen der Stiefel anprangerte, konnte beruhigt sein, er war auf der sicheren Seite, wer aber über die Verbrechen der Mützen oder gar über das Verbrechen des Großen Aborts sprach, bekam es mit den Weckern zu tun. Die Wecker stritten ab, von IHR irgendetwas zu wissen, so konnten sie über IHRE Gegenwart in einem jeden Menschwesen die Achseln zucken, so war die körperliche Existenz eines jeden Menschwesens zur Disposition gestellt. Der Massenmord war hocherweckter Denke inhärent. Wohlgemerkt, der Massenmord. Wo die Vernunft regiert – wohlgemerkt, die menschliche Vernunft – und alles Sein sich zu rechtfertigen hat vor dem Richterstuhl der Vernunft – wohlgemerkt der menschlichen Vernunft – und jeder Gedanke an SIE vor der hohnlachenden Vernunft sich wegzuducken hat – wohlgemerkt der menschlichen hohnlachenden Vernunft -, da ist es keine Sache mehr, die Menschwesen zu sortieren in lebenswertes Leben und lebensunwertes. Die als lebensunwertes Leben Aussortierten sind dann per definitionem keine Menschen mehr, und ihre massenhafte Beseitigung kein Mord, sondern eine hygienische Maßnahme, mit der die Lebenswerten zu ihrem eigenen Schutz die Müllabfuhr beauftragen. Es lag von jeher in der Natur der Hocherweckten, solch gedankliches Anbot mit beiden Händen zu ergreifen. Zugriff war von Anfang an das Merkmal der Hocherweckten. Die Hocherweckten mochten sein, was immer sonst sie sein wollten, zu allererst waren sie Partei. Partei gegen Wahrheit und Anstand, Partei gegen Redlichkeit und Moral, Partei gegen Menschlichkeit und Fairness. Die Hocherweckten legten fest, worüber geredet werden durfte, und wer sich widersetzte, gegen den wurde zum Halali geblasen. Gegen die Stiefel darf jederzeit geredet werden, legten die Hocherweckten fest, auf keinen Fall aber gegen die Mützen. Irgendwie haben die Mützen den Guten Willen, wusste es in den Hocherweckten, die Stiefel aber sind unsere Todfeinde. Warum nicht umgekehrt? Machte es für die Opfer irgendeinen Unterschied, ob sie zu Rassen- oder zu Klassenfeinden promoviert wurden? Und die Kindlein im Mutterleib? wurden die nach ihrer Meinung gefragt, wenn sie von den Hocherweckten als lebensunwerter Abfall deklariert wurden, zu Abholung und Entsorgung als Restmüll an den Straßenrand gestellt?
Über all dies wurde bereits zu Lebzeiten des Jungen mehr oder weniger beharrlich getuschelt, aber richtig laut wurde der Rumor erst nach seinen Toden, er erlebte das nicht mehr.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)