Julianus II

Und wanderten sie eine lange Zeit und sahen viel Länder, und kamen endlich an einen breiten Fluss, der glänzte ganz silbern und hell. Und hatte Vautrin eine Hütte am Fluss gebaut, da wollen wir wohnen, sagte der Mann, und, ja, lieber Julianus, das ist ein guter Ort, sagte die Frau. Und sie richteten her die Hütte, und Julianus baute eine Fähre, denn war zu beiden Ufern des Flusses eine Straße, und er setzte über die Reisenden und alle, die da kamen. Und es waren nur wenige am Anfang, aber dann verbreitete sich die Kunde, dass da ein Fährmann sei und Vautrins Straße wieder befahrbar, und es kamen die Kaufleute und begehrten, übergesetzt zu werden, und sie bezahlten Julianus gut, und seine Frau führte die Wirtschaft und beherbergte die Reisenden, so über Nacht bleiben wollten. Aber sie waren beide gute Leute, und sie kannten das Unglück und hatten daraus gelernt, und kam ein Mensch, der war arm und konnte nichts geben, so setzte Julianus umsonst ihn über den Fluss, und die Frau gab ihm obendrein zu essen und zu trinken und ein Bett für die Nacht. Aber schwer trug Julianus an seiner Tat, denn seht ihr, nicht wird Übeltat vergolten vergolten von den Menschen oder von Vautrin, sondern am schlimmsten rächt sie sich selbst, ist in den Gedanken und im Wähnen der Menschen und quält sie, ob sie es wollen oder nicht, und das ist die Erinnerung, und sie heißt Reue, die nagt und peinigt, dass der Mensch meint, besser sei es zu sterben denn weiterzuleben so. Und sahen die Menschen das Unglück des Julianus und hatten herzliches Mitleid mit ihm, konnten ihm aber nicht helfen. Und nun merkt auf. Kam da eine Nacht, da blies der Sturm, und Julianus lag im Bett bei seinem Weibe und hatte es warm. Und wie er so dalag, da meinte er eine Stimm zu hören, die klagte und wimmerte, und konnt er die Worte nicht verstehen, aber es wollt nicht aufhören das Klagen. Da stand er auf und schlüpft in die Kleider und ging hinaus in den Sturm und das Wetter, und schwarz war die Nacht, und da hört er, dass es rief vom andern Ufer des Flusses: Fährmann, Fährmann, komm und hol mich, mich hungert und friert, und sterben muss ich. Da sprang Julianus in sein Boot und setzte hinüber auf die andere Seite, oho, kein leichtes Ding war das, hoch gingen die Wellen und schlugen hinein in das Schiff, dass zu mehreren Malen der arme Julianus meinen musste, es sei nun aus mit ihm. Doch gelangt er glücklich auf die andere Seite, und stand da ein armer Mann, ganz in Fetzen die Kleidung, fast nackt war er, und er fror, dass er blau war am ganzen Körper, und seine Rippen waren zu sehen, denn schon seit Tagen hatte er nichts gegessen. Und er jammerte und sprach: Fährmann, Fährmann, setz mich über den Fluss, und gib mir zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf, mich hungert und friert, und ich muss sterben in diesem Wetter. Hast du denn Geld? fragte da der Julianus. Nein, antwortete der Mann, Lohn kann ich dir nicht geben. So sei‘s drum, sagte da Julianus, so will ich dich umsonst übersetzen und dich nähren und dir ein Dach über dem Kopf geben, denn du dauerst mich. Und da war der arme Mann sehr froh, als er das hörte, und er setzte sich in das Boot und Julianus ruderte ihn hinüber zu seiner Hütte. Dort wartete schon seine Frau, denn große Sorgen hatte sie sich gemacht und sich gefragt, wohin er wohl gegangen sei in dieser finsteren Nacht. Und Julianus wies ihr den armen hungrigen Mann, ganz erschöpft und klapprig war der, dass man ihn stützen musste beim Gehen, und die Frau hatte großes Mitleid und gab ihm zu essen und zu trinken und heizte den Ofen an für ihn, und als er begehrte zu schlafen, da gaben sie ihm ihr eigenes Bett, und sie selber schliefen in der Küche, denn sie hatten ja gelernt, wie weh das Unglück tut. Und als der Morgen kam, da hatte das Wetter sich beruhigt und die Sonne schien wieder, und der arme fremde Mann stand auf aus dem Bett und war gar sehr gekräftigt, und die Frau gab ihm aufs Neue Speis und Trank, und als er gehen wollte, da packte sie ihm noch ein Bündel, dass er Wegzehrung habe, und schenkte ihm einen Mantel ihres Mannes, dass er nicht frieren müsse. Und siehe, da wurde das Gesicht des fremden Mannes ganz hell, ja, ein richtiger Glanz ging aus von ihm, und er hatte strahlende Augen, und war nicht mehr arm und mager, sondern stand aufrecht und stattlich und hatte um ein Gewand aus lauter Gold und Brokat, das war der Mantel des Julianus, so wunderbar hatte der sich verwandelt. Und da sagte der Mann: Julianus, Julianus, kennst du mich, und kennst du meine Stimme? Ich war ja der Hirsch, den du im dunklen Wald verfolgtest. Und eingetroffen ist alles, wie ich es dir sagte, und du hast deine armen Eltern erschlagen in Zorn und Eifersucht, und nun kränkst du dich und plagst dein Herz, und schwer lastet die Reue auf dir und will die Erinnerung nicht weichen. Ich aber sage dir, du hast ein gutes Herz, und bist würdig deines Weibes, das dich liebt. Nun siehe, alles kommt, wie es vorherbestimmt ist, und die Dinge geschehen nach ihrer Bestimmung, nichts können die Menschen ändern. So höre nun auf, dich zu betrüben, und gehe hin und freue dich deines Lebens, denn kurz ist es und geht schnell vorüber, und nichts, was vorbei ist, kann wiedergebracht werden, noch irgendetwas, was geschehen ist, kann einer ungeschehen machen. Und alles was lebt, will leben und glücklich sein, und jede Minute des Unglücks ist eingetragen und eingeschrieben ins Buch des Lebens unwiderruflich. Und bedenke, Julianus, auch deine Uhr läuft ab und dein Leben verrinnt. Öffne die Augen und sieh dich um und sieh, dass Leben um dich ist und Freude, und dass du dein Dasein ausfüllen sollst, wie es dir zukommt, denn ein guter Mensch bist du, und bist den Menschen eine Freude und Labsal, wie es Vautrin verlangt. Und zum Zeichen, dass du deine Schmerzen enden sollst, geh hinunter zum Fluss und zu deinem Boot und sieh hinein. Und Glück sei auf deinen Wegen. – Und der fremde Mann wandte sich und verschwand, da verstanden die beiden Eheleute wohl, dass es Vautrin selbst gewesen, der so zu ihnen gesprochen hatte, und sie eilten hinunter zum Fluss, wie sie geheißen, und siehe, was soll ich euch sagen, da krabbelten in dem Boot zwei große Krebse, die winkten sehr mit den Scheren und tappten übereinander und fielen auf den Rücken und waren sehr ungeschickt, denn Krebse gehören ins Wasser, und da Julianus und sein liebes Weib hineinblickten in das Boot, da sprachen die Krebse mit feinen Stimmchen: Julianus, Julianus, erkennst du uns nicht, wir sind ja deine lieben Eltern, die du erschlagen hast mit der bösen Axt, aus Zorn und Eifersucht, aber nun sind wir hier, und du setz uns ins Wasser, denn trocken ist es hier und unangenehm, und gib uns zu essen, denn uns hungert sehr, und einen weiten Weg sind wir gekommen. Das sprachen die Krebse, und ganz helle Stimmchen hatten sie, ganz wie ein lindes Greislein, das über seinem Abendschoppen mümmelt, und Julianus erkannte die Stimmen wohl, und da freute er sich gar sehr, dass seine Eltern wieder lebendig waren, wenn auch in verwandelter Gestalt, und sein Weib freute sich mit ihm, und sie bauten unten am Fluss einen großen Behälter und setzten dort hinein die Krebse und fingen ihnen Würmchen und gaben ihnen Bissen von ihrem Tisch und nährten und pflegten sie und hielten sie in großen Ehren, und wenn der Abend kam und es kalt wurde, da holten sie die Krebse hinein ins Haus und setzten sie in eine große Schüssel mit Wasser, und die stellten sie vor den Ofen, dass die beiden guten Alten es doch ordentlich warm hatten und nicht frieren mussten, und so saßen sie beieinander an den langen Abenden beim Feuer und hörten, wie draußen der Wind pfiff, und bei sich drinnen hatten sie es warm und gut, und die Krebse winkten mit ihren Scheren und erzählten mit feinen Stimmchen lange lange Geschichten, dass die Leute kamen von weither um zuzuhören, denn nichts haben die Menschen lieber als dass ihnen Geschichten erzählt werden, und zwar recht lange, da sind die Großen nicht anders als die kleinen Kinder, und Julianus freute sich und sein Weib freute sich und die Krebse winkten mit den großen Scheren, und sie lebten alle glücklich miteinander und in Frieden, und es mag wohl sein, dass sie heute noch leben, da unten an ihrem Fluss, und es ist kein Ende der Geschichten, wie es Vautrin gewollt.“

Schweigen; tiefes, versunkenes Schweigen. Dann sagte Lili:

„War das schön!“

„Gut“, sagte David, „aber nun hab ich euch eine Geschichte erzählt, und jetzt sollt ihr wieder gehen, denn ich habe noch zu tun.“

Er hatte ein ganz rotes Gesicht vor Vergnügen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)