„Erzähl uns eine Geschichte“, verlangte Jeremias.
„Ja“, sagte auch Halbord, „erzähl uns eine Geschichte.“
„Ich weiß keine“, erwiderte David und runzelte die Stirn. „Immer kommt ihr her und verlangt, dass ich euch Geschichten erzähle, dabei kenn ich gar keine.“
„Oh, doch!“ protestierte Lili, „du kennst wohl welche. Erzähl uns die Geschichte von dem Mann mit dem Hirsch …“
„Die vom Mann mit dem Hirsch!“ rief Halbord. „Die vom Mann mit dem Hirsch!“
„Also gut“, sagte David. „Dann setzt euch aber auch hin und seid schön still, sonst erzähl ich nicht weiter.“
„Ja, ja“, sagte Lili eifrig, und die fünf Kinder setzten sich auf den Boden, im Halbkreis vor Davids Stuhl, und sahen gespannt zu ihm auf, Lili drückte ihre Puppe gegen die Brust, und David begann:
„War da also ein Mann, und der war der Sohn guter Eltern, und zusammen lebten sie am Wald, am großen, finsteren Wald. Oh, da heulten des Nachts die Wölfe, und die Bären brummten, jawohl, schrecklich war das, und der Wind rauschte in den Tannen. Und kam da ein Tag, da war der Mann auf dem Feld, und bestellte den Acker. Redlich musste er sich plagen, fürwahr, das Kreuz schmerzte ihn, und oft richtete er sich auf und ruhte sich aus, und dann schaute er zurück und sah, dass er eine gute Strecke gearbeitet hatte, denn ein junger Mann war er und fleißig. Und wie er sich nun wieder einmal aufrichtet, da sieht er es droben am Waldrand glänzen und funkeln, ja, richtig blitzen, und er guckt und schaut und späht sich die Augen aus, was das denn wohl ist, das da so glänzt und funkelt, und da sieht er, dass es ein Hirsch ist, ein großer Hirsch, der steht am Waldrand und betrachtet ihn aufmerksam, und sein Geweih ist, ja, was soll ich sagen, sein Geweih ist ganz aus lauterem Golde, jawohl. Und da denkt der Mann, den Hirsch, den will ich mir fangen und ihn zähmen und in unserem Garten halten, dass sich die Eltern daran erfreuen, haben doch die alten Leute ihr Lebtag so etwas nicht gesehen, einen Hirsch mit einem Geweih aus lauterem Golde! Und er springt und sucht den Hirsch zu haschen, aber der ist schneller als er und dreht sich um und verschwindet im Wald. Aber der Mann denkt doch jetzt, dass er ihn unbedingt haben will, den Hirsch, und deshalb läuft er ihm nach, hinein in den Wald. Oh, ist es da finster! und grausig! ganz grün und dunkel. Aber vor sich, da hört es der Mann immerfort knistern und rascheln, und ab und zu blitzt es golden auf zwischen den Stämmen und Ästen, das ist also der Hirsch, er ist ihm immer dicht auf den Fersen. Und immer tiefer folgt er so dem Hirsch hinein in den Wald, es wird schon hoher Mittag, und dann neigt sich die Sonne, und es beginnt zu dämmern. Und da kommt der Mann an eine Lichtung, ja, es ist die erste Lichtung überhaupt, die er an diesem Tag sieht, und da steht der Hirsch mitten drauf und starrt ihm entgegen, steht einfach so da und schaut ihn an, und sein goldenes Geweih, das glänzt und funkelt. Jetzt hab ich ihn, denkt der Mann, jetzt muss ichs aber auch ganz vorsichtig anfangen, dass er nicht wieder wegläuft, und er nähert sich vorsichtig dem Hirsch, wie er aber die Hand ausstreckt, um ihn anzufassen, da öffnet der Hirsch das Maul und redet in menschlicher Stimme und Sprache: Sag, Julianus – denn Julianus, so hieß der Mann – sag Julianus, warum verfolgst du mich? Lass mich gehen in meinen Wald, und wehe, ich sage dir, großes Unheil ist über dir, großes – du wirst erschlagen Vater und Mutter, das ist gewiss, eh du es denkst. Achte des wohl. Und als er das gesagt hatte, drehte sich der Hirsch um und verschwand zwischen den Bäumen. Nun versank aber Julianus in große Betrübnis, denn Vater und Mutter erschlagen, das wollte er nicht, aber er meinte nicht anders, als dass der Hirsch recht geredet habe, denn wenn ein Hirsch redet in menschlicher Stimme und Sprache, dann sagt er die Wahrheit, und alles was er sagt das trifft auch ein, merkt euch das. Ja, was sollte er nun tun, der arme Julianus? Da gibt es nur ein Mittel, dachte er bei sich, ich muss entfliehen, weit fort, an einen Ort, wo ich fern bin von meinen Eltern, den Alten, dass sie nicht wissen, wo ich mich aufhalte und sie mir nie wieder begegnen noch ich ihnen. So ein guter Sohn war er. Und er machte sich auf den Weg und durchquerte weiter den Wald, ohne einmal anzuhalten oder zurückzusehen. Und viele viele Tage war er unterwegs, da kam er in ein fruchtbares Land, und waren da Flüsse und Äcker und Wiesen und Haine, und viele wohlbestellte Dörfer hatte Vautrin gebaut, davon suchte Julianus sich eines aus und begann, es zu besiedeln. Und nicht lange, da geriet es ihm wohl, und er sah sich um nach einer Frau, dass er sich mehre, wie es Vautrin verlangt. Und er fand auch eine, und sie liebten sich sehr und herzten und küssten sich die ganze Zeit, und gedieh ihnen gut, ihr Dorf, und kamen andere Menschen, das Dorf mit zu bewohnen, und wählten Julianus zu ihrem Oberhaupt, doch Kinder hatten sie keine. Nun waren aber zur selben Zeit die Eltern des Julianus tief betrübt, dass ihr Sohn verschwunden war, und sie klagten und weinten und sandten aus in alle Richtungen, ob nicht jemand von ihm etwas gehört habe, aber es kam ihnen keine Kunde. Und so machten sie sich auf eines Tages, selber den Sohn zu suchen, denn sie wollten ihn noch einmal sehen, bevor sie sterben mussten. Und sie wanderten durch viele Länder und sahen die Menschen und die Städte und die Dörfer, und eines Abends, da sie müde waren und erschöpft und staubbedeckt von der langen Wanderung, da kamen sie auch in das Dorf des Julianus, der war aber nicht daheim, denn er hatte ins Nachbardorf müssen, dort über die Schafherde verhandeln. Aber seine Frau war zu Hause, und sie empfing die beiden Alten freundlich und gab ihnen zu essen und zu trinken und fragte sie nach ihrem Weg und Woher. Und da erzählten die Alten ihre Geschichte und dass sie auf der Suche seien nach ihrem lieben Sohn, der sei verschwunden vor vielen Jahren, und da verstand die Frau wohl, dass es ja ihr eigener Mann sei, den die Alten suchten, und sie sagte, seht, dass ist ja mein Julianus, von dem ihr sprecht, und groß war die Freude und der Jubel, das könnt ihr euch denken. Und da ehrte die Frau die beiden Alten sehr, denn sie waren ja alt und die Eltern des Julianus, und sie gab ihnen ihr eigenes Bett, das sie sonst mit Julianus teilte, und sie selbst schlief in der Küche, beim Herd. Und am anderen Morgen, da stand sie früh auf und ging zum Stall, um Milch zu holen, denn sie wollte doch die beiden Alten recht bewirten, und siehe, da kam unterdessen, während sie im Stall war, Julianus nach Hause, der war noch in der Nacht losgegangen im Nachbardorf, weil er Sehnsucht hatte nach seiner Frau. Da kam er also und trat ein in die Stube und ins Gemach, und was sah er da? Da sah er im Dämmer, denn es waren die Läden vor den Fenstern, dass zween Gestalten lagen in seinem Bett. Na, und da ergrimmte er furchtbar, denn er meinte nicht anders, als dass es seine liebe Frau wäre und ein anderer Mann, die da beieinander lägen und miteinander umgegangen wären die ganze Nacht, während er fort war, und er ergrimmte also furchtbar und fühlte die Eifersucht und ging hinaus und holte das große Beil und kam wieder zurück, und klatsch! und klatsch! erschlug er die beiden im Bett. Und als er wieder heraustrat aus dem Zimmer, da kam ihm seine Frau entgegen und trug den Milchkrug in der Hand. Da verwunderte er sich sehr und fragte: Frau, wie kommt es, dass du hier läufst umher und bist lebendig und trägst den Milchkrug, habe ich dich doch eben erschlagen! Und ruft seine Frau: Julianus, Julianus, großes Unheil hast du angerichtet, waren es doch deine lieben Eltern, die da im Bett lagen, und die hast du nun erschlagen mit dem bösen Beil! Oh, da waren Jammer groß und Not und der Tränen kein Ende, half aber nichts, er hatte Vater und Mutter erschlagen, wie es der Hirsch geweissagt. Da betrübte der Mann sich sehr, und er schnürte sein Ränzel und packte seine Habseligkeiten, und fragte ihn seine Frau: Julianus! wohin gehst du? Und er antwortet: Fort gehe ich, liebe Frau, mein Antlitz zu bergen vor den Menschen, denn ich habe Vater und Mutter erschlagen in Zorn und in Eifersucht, nicht anders meinend, es sei mein Weib, die da läge bei einem anderen Mann, und ich schäme mich sehr. Darauf sein Weib: Lieber Julianus, mein Mann bist du, und hab ich geschworen, die Treue dir zu halten in Glück und in Unglück. War ich bei dir die Tage, da Glück mit uns war, so will ich nun auch zu dir halten in der Not und Schande, und gehe mit dir. Des war der Mann natürlich sehr glücklich, und so schnürten sie beide ihr Bündel und machten sich davon, eine neue Heimat zu suchen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)