„Darf ich Eluard die Gewichte zeigen? Bitte, bitte!“ sagte Lili.
„Meinetwegen“, antwortete David mürrisch. „Aber nur, wenn du sie nicht aus der Hand gibst. – Du weißt ja, wo sie sind.“
„Jaja“, sagte Lili leichthin und sprang auf. Sie öffnete eine Tür in dem eichenen Wandschrank und holte ein hellglänzendes Gefäß hervor, das trug sie sorgfältig in den ausgestreckten Händen wie einen kleinen Vogel.
„Guck mal ..“ sagte sie zu Eluard.
Das war ein Gefäß, geformt fast wie eine Öllampe, länglichrund, aus gehämmertem Messing, und den Deckel konnte man aufklappen, er saß an einem kunstvoll ziselierten Scharnier. Das Innere, ja, das war eine Dose, ein kreisrundes Behältnis, und angefüllt war es mit einer Unzahl anderer offener Dosen, eine kleiner als die andere, und genau ineinander geschachtelt. Sie waren geformt wie kleine Becher, oder besser Schalen, mit leicht nach außen geneigtem Rand, und die äußere war so groß, dass sie dicht am Innenrand des Behältnisses anlag, die innerste aber so klein, dass selbst Lilis zierliche Fingerchen vorsichtig tasten mussten. Das waren wenigstens zwanzig der kunstvollen Schalen, und wenn man sie herausholte und nebeneinanderstellte, gab es eine lange Reihe, man würde es nie für möglich halten, dass sie alle miteinander in dem einen Gefäß Platz haben sollten, und doch war es so.
„Wie schön ..“ sagte Eluard, das gefiel ihm ausnehmend, es lag Kunstfertigkeit in dem kleinen Gegenstand, Stille und Geduld …
„Ich weiß, was das ist“, sagte Waldemar, der als Kaufmannskind dergleichen kannte. „Das sind Goldgewichte.“
„Goldgewichte?“ fragte Eluard.
„Ja“, antwortete Waldemar, „siehst du, man nimmt eine Waage, so wie die da“ – er wies auf das Wandregal – „und in den einen Teller legt man das Goldstück, das man bekommen hat, und in den anderen eine bestimmte Zahl von Gewichten, und wenn dann der Waagbalken ganz gerade hängt, dann ist das Goldstück richtig, aber wenn er schief hängt, dann hat jemand am Gold herumgemischt.“
Das war nur die Hälfte der Wahrheit, würde er später herausfinden, aber so hatte es ihm Roger erst mal erklärt.
„Ah“, machte Eluard und war nicht ganz überzeugt. Dann wandte er sich an David, der am Tisch saß und zuschaute, und fragte: „Bekommst du denn viele Goldmünzen?“
„Ha!“ rief David, „nein! Es ist etwas ganz anderes, das ich damit abwiege, etwas viel Kostbareres … ich verrat es euch, wenn ihr versprecht, es nicht weiterzusagen …“ Er legte listig den Finger an die Nase. „Ich wieg nämlich damit die Schneckenhäuser, ja, die sind nämlich viel kostbarer als Gold, und niemand weiß das, aber es gibt ein Land, da gibt es gar keine Schnecken, stellt euch das vor, weder im Wald noch hinter den Häusern noch auf den Wiesen gibt es auch nur eine einzige Schnecke, na, und die Bewohner dieses Landes, die leiden da natürlich sehr darunter, und deswegen freuen sie sich, wenn ein Reisender kommt und wenigstens ein paar leere Häuser mitbringt, die schauen sie sich an und stellen sich vor, wie das wäre, wenn es doch auch bei ihnen Schnecken gäbe, ja … und weil die Häuser so selten sind, denn es kommen nicht oft Reisende in dieses Land, da sind sie natürlich sehr wertvoll, ihr wisst ja, alles, was selten ist, ist wertvoll, und sie werden mit Gold aufgewogen, nach der doppelten und dreifachen Menge, jawohl, und wenn ein Gehäuse besonders schön ist, da kann man bis zu dem Zehnfachen des Gewichts verlangen, und es finden sich Leute, die bezahlen diesen Preis, jawohl! Und jetzt, wisst ihr, aber verratet das keinem weiter, eines Tages werde ich fortziehen in dieses Land, und damit ich dann dort gut leben kann und mir alles kaufen kann, da spare ich jetzt schon mal, und sammle die Schneckenhäuser, und immer, wenn ich eines gefunden habe, dann trage ich es hierher und wiege es ab und stelle fest, wieviel ich jetzt besitze, in Gold. So ist das.“
„Ooooh …“ machten die Kinder und schauten aus großen gläubigen Augen, lediglich Waldemar war etwas skeptisch, ein Land, in dem es keine Schnecken gab, davon hatte er noch nie gehört, er würde Grand Mère fragen, die wusste alles, aber auch, wenn es nicht wahr sein sollte, so war es doch eine schöne Geschichte, das musste er zugeben.
„Und nun bring das weg“, sagte David zu Lili, „sonst geht noch ein Stück daraus verloren.“
„Ja“, sagte Lili folgsam und trug die Dose mit den Gewichten zurück zum Schrank.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 19.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)