Der Verdacht

Es genüge vorerst zu sagen, dass der Verdacht gegen das Hocherleucht in der Welt war. Vorrangig der Verdacht, dass die meisten Begriffe des Hocherleuchts im Kern bewusst fälschende Lügenpropaganda waren. Das Hocherleucht hatte weder Freiheit noch Vernunft in die Welt gebracht, weder Gleichheit noch Brüderlichkeit, sondern Zwang und kreischenden Aberwitz, bis hin zu glatter und platter und planer Verleugnung der menschlichen Natur. Die Freiheit des Redens war ihnen ein Gräuel, den freien Markt der Worte wollten sie abschaffen. Zu Lebzeiten des Jungen kamen sie dahin, genaue Pläne aufzustellen, wie Sprache gebraucht werden dürfe. Welche Worte sind noch statthaft? Welche Worte sind beleidigend? Welche Pronomina und Suffixe dürfen oder müssen verwendet werden? Männlich? Weiblich? Das hatte bisher die Freiheit des Marktes entschieden, weg damit, wussten die aufgeklärten Taschen, wir haben jetzt einen genauen Plan, wie künftighin noch geredet werden darf, und wer anders redet, der gehört bestraft, dafür werden wir sorgen. Sie setzten durch, dass in den Schulen in den Behörden nach Plan geredet wurde, selbst Firmen wurden bestraft wenn sie in Stellenanzeigen auf dem Markt falsche Formulierungen verwendeten – falsche Formulierungen waren solche, die in dem Plan der Hocherweckten nicht vorgesehen waren. So hielten es die Erweckten mit der Freiheit.

Und sie hatten hart dafür arbeiten müssen. Falsch formuliert. Mit dem Arbeiten hatten es die Wecker nie so gehabt, das hatten sie immer andere machen lassen, also lasst mich besser sagen, sie hatten beharrlich bohren müssen. Das lag ihnen mehr. Gerade ihr Hass auf die Freiheit der Meinungen war nicht so leicht durchzusetzen, den einfachen Menschen auf der Straße war das freie Reden das Versprechen des Marktes gewesen, das ihnen stets unmittelbar eingeleuchtet hatte. In der Nachbarschaft, auf dem Dorf, in der Straße konnte man nur gedeihlich leben, wenn das freie Reden nicht unterbunden wurde. Die Nutzung der Gemeindeallmende war immer in freier Rede ausgehandelt worden, und was die freie Rede der Weiber am Brunnen anbelangte, so war die allezeit herzlich gefürchtet worden, aber sie zu unterbinden, war nie in Frage gekommen. Die Überzeugung vom ungeheuren und selbstverständlichen Wert der freien Meinungsäußerung war also aus der Tiefe der Jahrhunderte heraufgekommen und vom Markt als kostbarer Grundsatz nicht erfunden, sondern übernommen und verallgemeinert worden. Die Aristokraten waren nie so begeistert davon gewesen. Sie redeten lieber fein und klausuliert und deuteten an. Freie Rede galt als plump, als bäurisch. Gerade deshalb fühlte der Mann auf der Straße, mein Maul aufzumachen, das ist mein höchstes Gut. Wenn ich das nicht mehr darf, schmeckt mir mein Bier nicht mehr. Die Wecker bohrten gegen diese Grundsätze an allen Ecken und Enden. Sie konnten sich Wein leisten und verachteten den Pöbel, der reden wollte, wie ihm das Maul gewachsen und gewaschen war. Die Kinder von Stiefeln von Mützen von Taschen spielten sich gern als wechselseitige Gegner auf, aber das waren sie nicht, sie waren alle Kinder des Hocherwecks, und als Kinder des Hocherwecks wollten sie Machthaber sein. Der Mann von der Straße wollte Herr sein in seiner Stube, und damit hatte es sich. Die Aufgeklärten aber wollten immer Herren sein über alle, sie hatten die Aristokraten abgeschafft, aber nicht die Aristokratie: in deren Schuhe zu treten fühlten sie sich selbst berufen. Sie logen, ihre Revolution hätte „die Herrschaft des Menschen über den Menschen“ abgeschafft, und gierten doch alle nach einem einzigen Ziel: Zwangsherrscher zu sein über alles, was da kreucht und fleucht auf dem Erdball. Sie wollten nicht nur Herrscher sein über das Fleisch, sondern Herrscher über die Hirne zuallererst. Herrscher über die Gedanken über die Worte und über alle Mutmaßungen. Freiheit galt ihnen immer als ihre Freiheit, den anderen das Gedenk vorzuschreiben, Stiefeldenke Mützendenke Taschendenke. Als Stiefel Mützen Taschen versicherten sie, sich gegenseitig Gegner zu sein auf den Tod. Aber sie waren sich gegenseitig nicht Gegner, sondern Konkurrenten. In ihrer Feindschaft gegen die Freiheit der Meinungsäußerung waren sie sich einig, und versteckten diese Einigkeit, indem sie Freiheit der Rede jeweils für sich selber in Anspruch nahmen, sie allen anderen aber bestritten. Im Alter des Jungen wurden die Taschen und die Kryptomützen immer frecher. Sie propagierten ganz offen: Worte sind gefährlich, freie Meinung ist gefährlich, denn die ungesteuerte Rede die ungeplante Meinung, überall verletzt sie beleidigte und gekränkte Sensible! Überall sind doch Minderheiten, die durch Worte beleidigt werden können! Werden beleidigt schon dadurch, dass sie als Minderheiten angesprochen werden! Die Sprache selbst ist Gefahr. Die Gewohnheiten der Sprache, die Überkommenheiten der Sprache. Sprache macht die Frauen unsichtbar. Die Unterdrückung! Wer unbedacht von Ärzten redet, schließt die Arztinnen aus, macht all die Ärztinnen unsichtbar! Die Beleidigung! Ausdrücklich muss immer, wenn geredet wird, von Ärztinnen und Ärzten geredet werden! Herrschaft ist Machtinstrument, das muss den Männern entwunden werden! Rede muss zensiert bepresst eingeengt beängstigt werden, erst dann ist Freiheit erreicht. Jeder soll bei jedem Wort das er sagt stöhnen und keuchen vor Angst, schwitzen soll er vor Angst, er sage womöglich was Falsches, und werde deshalb an den elektronischen Pranger gestellt. Falsche Wörter! Falsche Sätze! Falsche Pronomina! Falsche Suffixe! Jedes öffentlich geäußerte Wort soll unter Beobachtung stehen! Überall muss das Falsche ausgemittelt werden. Was falsch ist, entscheidet nicht mehr die freie Rede selbst in freier Aushandelung, das entscheidet der festgelegte Plan, und wenn einer nach Maßgabe des Plans was Falsches gesagt hat, dann gilt: Entschuldigen muss der sich! Für das Ungeheuerliche, das er gesagt hat! Auf dem Bauche muss der kriechen! Bestraft werden muss der für das Falsche, dass der da gesagt hat! Ist der Lehrer, ist der in öffentlicher Stellung: sofort entlassen den! sofort seiner bürgerlichen Existenz berauben den!

Ja, so bedacht und in gewisser Weise ist die freie Meinungsäußerung sogar wieder willkommen: weil sie die Falschen in falsche Sicherheit wiegt und verleitet, das Falsche zu sagen. Schwupps, schon ist das falsche Wort raus, gesagt ist gesagt, das einmal ausgeflogene Wort lässt sich nicht wieder zurückholen, und schon steht er blöde da, der falsche Sager, steht am Pranger!

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 18.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)