Zeichen unter der Rinde

David nahm sein Werk in die Hand und setzte sich so aufrecht, dass das Licht vom Fenster gut darauf fallen konnte, und die Kinder steckten die Köpfe darüber zusammen und schauten.

Er benutzte Birkenrinde zum Zeichnen, große, unregelmäßig geformte Stücke von Birkenrinde, die waren sauber vom Stamm heruntergeschält und getrocknet und glattgepresst worden, er machte das selber, und die Innenseite wurde gelblichhell und recht glatt, das gab ein gutes Material zum Schreiben und Zeichnen. Als Stift benutzte er Holzkohle, er hatte sich selber einen Halter gebastelt, aus Holz.

„Ist das schön“, sagte Lili.

Ein Nachtstück. Schwere Wolken über einer schwarzgedehnten Ebene, in der Ferne ein Wald. Ein Reiter auf dem Weg, in rasendem Galopp, dass die Mähne des Pferdes flog. Wind war da, der zerriss die Wolken, und der Mond trat hervor, mit kaltem Schein, und beleuchtete den Reiter, man sah, dass er einen Speer trug, den hielt er vorgestreckt, als treffe er in wildem Entschluss einen fernen Feind.

David hatte sich in der Komposition von der natürlichen Struktur und den Unebenheiten des Materials leiten lassen; als er zu zeichnen begann, auf dem glatten Stück Nichts, hatte er nicht gewusst, was es werden würde, er hatte meditiert darüber, eine halbe Stunde, dann hatte er den Stift angesetzt, dort, wo ihm das Herz und der natürliche Mittelpunkt des Rindenstücks zu liegen schien, und da war ein Fäserchen unter der glatten Innenrinde gewesen, es gab einen kleinen Widerstand, der teilte sich mit durch die Holzkohle der tastenden Hand, wie eine geflüsterte Weisung, und David folgte der Weisung, der Stift glitt weiter, es entstanden Linien, Kurven, Schraffuren, Mondlicht leuchtete hervor.

Da war eine Geschichte gewachsen, unter der lebenden Birkenrinde, war gewachsen mit dem jungen Stämmchen, geschützt und genährt von jungem Saft, bis die vorherbestimmte Stunde kam, und eine Menschenhand löste die Rinde, und tastete hinweg darüber, und fühlte, und spürte, und lauschte, und die Holzkohle ertastete ihren Weg, und die Geschichte wurde offenbar, die da beschlossen war von Anbeginn.

„Wo er wohl hin reitet“, meinte Lili.                                                                                             

„Wie sein Umhang fliegt!“ sagte Waldemar. „Und die Mähne!“

„Er reitet zum Wald.“

„Er trifft dort jemanden.“

„Ja.“

„Einen Feind.“

„Oder einen Zauberer.“

„Es ist Vollmond.“

„Aber die Wolken treiben.“

„Da ist Unheil.“

„Ja.“                       

Sie drängten sich um das Stück Rinde, das David ruhig in der Hand hielt, und besprachen sich, aufgeregt, deutend, konzentriert. Was ist wichtiger als eine Geschichte? Man muss darüber nachdenken, sie verlängert sich nach beiden Seiten ins Unendliche, aus ungemessenen Strömen gespeist ist ihr Woher, und flutet zu einer Mündung, die öffnet sich in den immer ungesehnen Ozean der Zukunft.

„So, jetzt ist es genug“, sagte David und legte die Zeichnung zurück auf den Tisch.

„Och …“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)