David wohnte im linken Flügel des Hauptbaues, ja, man konnte sein Zimmer, denn er hatte ein eigenes, auf zwei Weisen erreichen: entweder man passierte das Hauptportal, als wollte man zur Großen Halle gehen, wand sich durch finstere Korridore und stieg in einem engen Treppenhaus sechs Treppen empor, an deren Ende sich ein Gang befand, der rechtwinklig auf den traf, an dem Davids Zimmer lag; oder aber man benutzte die hölzerne überdachte Außentreppe, bog oben im Gebäude rechts ab, traf auf eine strahlenförmige Gangkreuzung, deren Arme auf unterschiedlichem Niveau lagen, das durch Stufen ausgeglichen wurde, und wandte sich auf dieser Kreuzung scharf nach rechts, in den Hauptbau hinein: so traf man auch auf Davids Zimmer.
Eluard fand, er würde sich hier nie auskennen, und wenn er noch so lang hier wohnte.
„Ach was“, sagte Lili und achtete darauf, seine Hand nicht loszulassen, „das lernst du schnell …“
Halbord, der voranging, wiegte den Kopf, so einfach war das nun doch nicht, da konnte nicht jeder kommen.
„Bist du gern hier?“ fragte Waldemar, der auf Lilis anderer Seite ging, und er meinte Eluard.
Eluard war verlegen, dass er das so einfach vor den anderen gefragt wurde, als wären die gar nicht da, er hätte gern „nein“ geantwortet, das wäre wahr gewesen, er liebte diesen Zustand der Ungewissheit nicht, dieses unklare Schweben, aber konnte er das sagen? Er bedachte Lili, die sich so viel Mühe mit ihm gab, und antwortete höflich: „Ja.“
„Wirklich?“ fragte Lili und wurde ganz rot und glücklich.
Waldemar schaute verwundert, er hatte eine andere Antwort erwartet, aber er sagte nichts.
„Da sind wir“, rief Jeremias und tanzte vor einer geschlossenen Tür auf einem Bein. „Sollen wir reingehen? Gehen wir rein?“
„Ja, dann klopf doch mal an“, sagte Halbord gereizt. Anzuklopfen, das war bei David immer ratsam, er konnte ungehalten werden, wenn man ihn so einfach störte …
„Ja, was ist denn …“ rief Davids Stimme von innen, Davids brüchige Stimme, die so klang, als befände er sich immer noch im Stimmbruch.
„Wir sind es“, rief Halbord durch die geschlossene Tür.
„Ja“, sekundierte Jeremias, „wir wollen dich besuchen!“
„Also“, knurrte es von innen, „dann kommt rein, und Vautrin sei mit euch …“
Was das nun wieder bedeuten mochte … Waldemar zuckte die Achseln und schloss sich Halbord und Jeremias an, die die Tür öffneten und hineingingen, wobei einer dem anderen auf die Füße trat; und Lili und Eluard machten den Abschluss.
„Und macht die Tür zu!“ rief David, und Lili gehorchte.
Das war also Davids Zimmer. Klein, mit einem rundbogigen Fenster hinaus auf den Innenhof. Ein schwerer eichener Schrank neben der Tür, verschiedentlich ausgebessert, auch mit einer neuen Tür versehen, von kundiger Hand, da war wohl der Tischler Bertram am Werk gewesen. An der rechten Wandseite eine Bettstatt, zerwühlt und unordentlich, und links ein Regal, das reichte bis an die Zimmerdecke, viel zu groß war es, als dass es durch die Tür gepasst hätte, es musste hier an Ort und Stelle gezimmert worden sein. Seine Bretter bargen: Holzreste, Tannenzapfen und Kastanien, Schneckengehäuse und Muscheln, ein paar kleine ausgestopfte Tiere, Eichhörnchen und Mäuse, Birkenrinde in großer Menge, Werkzeuge, Fluss- und Kieselsteine, manche seltsam und schön geformt oder gefärbt, eine Handwaage, einen Kaninchen- und einen Katzenschädel (welch ein Gebiss die kleinen Schleicher haben!), ein unregelmäßiges Bruchstück rotgefärbten Glases, wohl aus der Großen Halle, und drei kniehohe Puppen, geformt aus Weidenzweigen, die waren erstarrt in bizarrem Gebärdenspiel.
An der Wand über der Bettstatt hing ein Ochsenschädel, mit schweren Hörnern.
David saß an einem breiten Tisch, der stand unter dem Fenster, so dass seine Fläche das helle Tageslicht empfing.
„Wie ich sehe“, sagte David und drehte sich um auf seinem Stuhl, „habt ihr euch vermehrt, wundersam, wundersam, wie viele seid ihr jetzt … drei, vier, fünf, aha, so geht das …“
„Du machst dich über uns lustig!“ rief Lili klagend.
„Aber nein“, erwiderte er zerstreut, „wieso denn …“
„Das sind unsere Gäste“, erklärte Halbord, „Waldemar … und Eluard.“
„Was machst du da?“ fragte Jeremias neugierig. Er hatte sich dem Tisch genähert und suchte vergeblich, auf die Tischplatte zu spähen.
„Ich zeichne“, knurrte David.
„Oh, zeigs uns!“ rief Lili und klatschte in die Hände.
„Nein.“
„Oh doch! Bitte, bitte!“
„Also gut“, sagte David, „aber nur anschauen.“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)