Lili setzte sich auf den Bettrand neben Großvater Hamann, das heißt, sie legte sich fast neben ihn, sie stützte den kleinen Ellbogen auf das strohraschelnde Kopfkissen und schmiegte den Kopf in die Hand, und so betrachtete sie aufmerksam aus blauen Augen den sterbenden Großvater.
„Lebt er noch?“ fragte sie ernst.
„Aber ja, Kind“, rief Grand Mère erschrocken, „er lebt noch, Vautrin allein weiß, wie lange es noch dauern mag, ja …“
Der Großvater Hamann lag immer noch, wie sie ihn belassen hatten: den Kopf in den Nacken geworfen, dass der Kehlkopf spitz nach oben stach, und den Mund mit den schmalen Lippen ein wenig geöffnet, so dass durch den engen Spalt das Rasseln und Röcheln seiner Atemzüge drang, schwer und langsam.
„Hört er denn gar nichts?“ fragte Lili. „Wie er schnauft …“
„Nein“, antwortete Grand Mère, „er hört es nicht, wenn man mit ihm redet.“
„Und wenn ich ihm etwas vorsinge?“ beharrte Lili.
„Na ja“, sagte Grand Mère, „warum auch nicht …“ Und Lili begann dem Großvater vorzusingen, mit dünner und hoher Stimme, es war nichts Besonderes, eigentlich kein Lied, sie folgte den Worten, wie sie ihr kamen, und der Melodie, wie sie ihr gerade einfiel, es war eher ein Singsang, schläfrig und klingend …
„Lebt die Maus
fort im Haus,
kommt die Katz,
gibt ne Hatz,
fällt in Teich,
ertrinkt sie gleich,
lacht die Maus,
allein im Haus,
kommt das Huhn,
ist Katze nun,
haut die Maus,
die will grad naus,
ist tot die Maus,
leer das Haus
…“
Waldemar kniete nieder neben Magdalenas Bett und betrachtete das aufgedunsene, bleiche Gesicht mit den roten Flecken.
„Kann sie denn gar nichts sagen?“ fragte er.
„Nein“, antwortete Grand Mère, „weck sie nicht, mein Lieber, und geh nicht zu nah ran, es möchte auf dich übergreifen …“
„Werd ich dann auch krank?“ fragte Waldemar interessiert.
„Ja“, sagte Grand Mère, „und das ist gar nicht lustig, weißt du, das tut weh.“
Arme Magdalena, ihre Lippen waren aufgesprungen, blaue Ringe lagen um die Augen, und sie atmete flach und keuchend. Ob sie schlief? Vielleicht war sie auch wach, hatte nur nicht die Kraft, die Lieder zu heben, oder ein Wort zu sagen …
Eluard war neben Grand Mère stehen geblieben, und sie hielt den Arm um ihn geschlungen, den guten dicken Arm … sie verhielten sich ruhig, die Krankentiere, noch, aber sie konnten ausbrechen, jeden Augenblick …
Die Tür öffnete sich, und Inge kam herein. „Oh“, sagte sie, „Besuch … aber ihr dürft nicht lange hier bleiben.“
„Nein nein“, meinte Grand Mère, „sie sind eben erst gekommen, gerade diese Minute.“
Inge beugte sich zu Eluard nieder unter drückte ihn an sich. „Hast du einen schönen Tag gehabt, mein Süßer? Wie hübsch du bist!“ Sie strich ihm die Haare aus der Stirn, dann sah sie Grand Mère an und fragte: „Und wie geht es ihr?“
Und Grand Mère antwortete: „Unverändert.“
Der Großvater Hamann begann sich zu rühren, er hob den Kopf, ganz starr, wie eine Gliederpuppe, und der Adamsapfel senkte sich, und dann begann es tief unten im Leib des Alten zu gurgeln und zu rumpeln, ja, es brodelte wie in einem Sumpfloch, und dann stieg es hoch im Leib, und bildete Blasen vor dem Mund, platzende stinkende Blasen, und der Großvater Hamann riss die Augen auf, wässrige blicklose blaue Augen, und dann geschah ein langes Zischen, es entströmte dem Mund, pfeifend, als wäre ein Blasebalg aufgeschlitzt worden, und dann brach das Gebrodel hervor, über die erstorbenen Lippen, eine gelblich-helle Brühe, schleimig und fließend, und vermischt mit schwarzen Brocken, wie nasse Asche, stoßweise quoll es hervor, rann das Kinn hinunter, durchnässte die Decke, und immer tönte ein röchelndes Gurgeln aus der brodelnden Kehle, unter den bewusstlos starrenden Augen, und Eluard sah, wie es grinste dahinter, es kicherte, es war eine Vorführung, nur für ihn, siehst du es, siehst du, wie ichs mache, fragte es aus den Augenwinkeln, und es rülpste und gurgelte und spie, hehe, na, wie findest du das? und das? und das? und Eluard fühlte einen wilden Hass, er wollte sich auf den Großvater stürzen, dieses Vieh, dieses Schwein, und ihn prügeln, dass er damit aufhöre, aufhöre mit seiner dreckigen, hämischen Darbietung, dieser Entblößung, dieser Zurschaustellung … und es fiel hinein in Eluards Muskeln wie eine bleiche Kälte, er konnte sich nicht rühren, keinen Finger bewegen …
Grand Mère sprang auf und ergriff mit der einen Hand den Kopf des Großvaters Hamann und stützte ihn, mit der anderen Hand nahm sie den Lappen aus dem Wasserbecken und wischte die Brühe ab, immer mehr quoll hervor, den Raum erfüllend mit Gestank, und die Kinder standen drum herum und starrten, Lili war auf die Füße gesprungen und einen Schritt zurückgetreten, und Grand Mère blickte auf und sah, dass Eluard beinahe ohnmächtig wurde, und gereizt rief sie Inge zu:
„Nun schaff doch die Kinder raus!“
Und Inge schob die Kinder zur Tür hinaus, den armen Eluard musste sie heben und hinaustragen, er wäre sonst stehengeblieben, wo er war.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 13.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)