Die Durchleuchtung erwischte die Leuchter deshalb so vernichtend, weil sie ohnehin auf wackelndem Brett standen. Ich habe schon davon geredet, dass bereits zu Lebzeiten des Jungen der Markt sich über den ganzen Planeten verbreitet hatte. Freier Markt der Waren, freier Markt der Meinungen. Die Überzeugung vom grundsätzlichen Wert des freien Marktes wurde Allgemeingut. Niemand kann und darf präjudizieren, welche Ware morgen auf den Markt kommen soll, niemand kann und darf präjudizieren, welche Meinung morgen auf den Markt kommen soll. Die Stärke des Marktes ist gerade, dass niemand weiß, was er morgen bringen wird.
In dieser Botschaft malte sich das Konzept des Marktes geradezu als Inbegriff der Moderne. Die Vorstellung rührte aber auch an die alleweile Bereitschaft des Menschtiers zu hysterndem Geangste. Das geht doch nicht, schrien die Angster, dass wir heute nicht wissen sollen, was morgen passieren wird! Im Gegenteil! Wir müssen planen, was morgen passieren wird, wir müssen das in den Griff kriegen. Nur so können wir den zerstörerischen Kräften des Marktes Widerpart leisten!
Die Kräfte des Marktes waren oft genug zerstörerisch, aber oft auch war, was zerstört wurde, nicht bewahrenswert gewesen, sondern wurde durch Besseres oder einfach Anderes ersetzt, das, unvorhersehbar und ungesteuert, aus den schöpferischen Kräften des Marktes erwuchs.
Schöpferische Kräfte! höhnten die Marktgegner. Gibts ja gar nicht. Wir wissen das besser.
Aber die Rede von den schöpferischen Kräften des Marktes war nur eine Ellipse, gemeint war: die schöpferischen Kräfte, die durch die Freiheit des Marktes entbunden werden. Die schöpferischen Kräfte, denen der Markt Tummelplatz wird. Die sich durch die bloße Existenz des Marktes herausgefordert fühlen.
Schöpferische Kräfte, deren Entwürfe unvorhersehbar sind.
Die Unvorhersehbarkeit war den Marktgegnern verhasst. Wir brauchen keine Unvorhersehbarkeit, wussten sie. Was wir brauchen, das ist ein Plan. Was wir brauchen, das ist ein Entwurf. Und was wir vor allem brauchen, das ist, dass sich alle an unseren Plan halten. Die wollen sich nicht dran halten? Wir kommen und helfen nach.
Immer hatten sie irgendein Buch oder irgendeine Theorie oder ein Programm, die nur befolgt werden müssten, dann würden sie das Heil bringen über den Planeten.
Sie hatten niemals das Heil gebracht über den Planeten, sondern immer nur die Katastrophe, eine schlimmer als die andere.
Das Werkzeug der Marktgegner war, auf die eine oder die andere Weise, der Plan.
Der Plan war in einem Heiligen Buch niedergelegt, oder in einer angeblich unwiderlegbaren wissenschaftlichen Wahrheit, was immer.
Im Markt und im Plan standen sich gegenüber die Moderne und die antimoderne Revolte.
Die antimoderne Revolte sagte gerne: Wir sind die eigentliche Moderne.
Die antimoderne Revolte sprach überall die Angstbesetzten an, die Angst war das wichtigste Werkzeug der Revolte, und dass die Menschtiere Angst hatten, dafür sorgte die Revolte selbst, zuerst und vor allem anderen müssen die Angst haben, wusste die Revolte, dann folgen sie unserer Fahne.
In der Tat. Wer sich auf den Markt wagte, durfte keine Angst haben, oder besser, er durfte schon Angst haben, aber er musste sie überwinden.
Deshalb war der Markt allüberall auf dem Planeten ja so erfolgreich: weil er jene Menschtiere anzog, die ihre Ängste zu überwinden verstanden. Die die Ärmel hochkrempelten und sagten, egal wie mir die Knie schlottern, jetzt geh ich raus und pack das an. Jetzt stell ich mich hin und steh ein für meine Überzeugung. Jetzt bau ich meinen Stand auf und biete das Produkt an, über das alle lachen. Die neue Ware, die neue Idee. Das neue Produkt, das neue Buch. Den neuen Song, das Video.
Die Angstscheißer allüberall hingegen versammelten sich hinter den Fahnen der Antimodernen Revolte. Die Antimoderne Revolte verstand stets, den Angstscheißern den Feind zu weisen: Die dir Angst machen, das sind die Feinde. Ist doch ganz klar!
Die Angster wollen Feinde sehen, um denen den Scheitel mit der Axt zu ziehen. Das Menschtier mordet niemals aus Stärke und Überlegenheit, sondern stets aus Schwäche und Angst. Die Starken morden nicht, warum sollten sie. Sie lassen gelten, sie lassen leben, sie haben die Stärke dafür. Die Starken lassen gelten, die Angster machen sich geltend. Vierundzwanzig Stunden am Tag sind sie bestrebt, die Angster die Schwächlinge, sich geltend zu machen, sie brauchen das. Der Starke braucht das nicht, wozu sollte er sich geltend machen, er lässt die anderen gelten, das tut seiner Stärke keinen Eintrag. Die Schwächlinge aber lauern, ob sie vielleicht nicht genug gewürdigt werden? ob sie nicht ernst genommen werden? Dann schlagen sie gerne zu.
Für die Pferdeschnauzige für das Ganzstiefelvieh hatte ein abwartender Blick aus Kinderaugen genügt, und sie schlugen zu. Sie hatten sich bedroht gefühlt von dem Blick, denn sie waren Schwächlinge.
Und weil das nun einmal so ist, weil die Starken gelten lassen und die Schwächlinge alleweil sich geltend machen wollen, deshalb waren die Länder des Marktes im Großen und Ganzen friedlich, die Länder des Plans Brandstifter und globale Mordbuben.
Überflüssig zu erwähnen, dass die Antimoderne Revolte stets das Gegenteil behauptete. Der Markt ist der Untergang der Menschheit! versicherte die Antimoderne Revolte, und bot diese Überzeugung an den Ständen feil, für die ihr auf dem Markt bereitwillig Platz eingeräumt wurde.
Der Antimodernen Revolte teilte sich die Welt von selbst in falsch und richtig, in Falsche und Richtige, in Gläubige und Ungläubige, in Schwarz und Weiß. Wir haben den Plan! Wir haben das Heilige Buch, wir haben den Bart des Propheten! Wir haben die wissenschaftlichen Beweise.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)