Drüben standen die drei noch immer am selben Fleck und berieten sich. „Und was machen wir jetzt?“ fragte Halbord.
Waldemar strich mit dem großen Zeh einen Halbkreis in den Boden, er überlegte, die Hände auf dem Rücken gefaltet.
„Wir könnten rausgehen, zum Fluss“, schlug Halbord vor.
„Och“, krähte Jeremias, „das ist ja langweilig!“ und er verzog schon wieder das Gesicht.
„Ich möchte Magdalena besuchen“, sagte Waldemar.
„Au ja! Und ich den Großvater Hamann!“ rief Jeremias. „Wir gehen hoch und besuchen sie!“
„Also gut“, stimmte Halbord zu, etwas mürrisch, weil der Vorschlag nicht von ihm kam. „Aber wir gehen gleich wieder weg!“
„Wir gehen rauf und gucken ein bisschen, und dann gehen wir wieder,“ sagte Waldemar.
„Wir müssen es Lili sagen, und deinem Bruder Eluard“, fiel Halbord noch ein.
Waldemar drehte sich um und rief zu den beiden hinüber, die unter der Kastanie saßen: „Wir gehen Magdalena besuchen, und den Großvater Hamann … kommt ihr mit?“
„Au ja“, rief auch Lili und stand auf, indem sie ihre Puppe an sich drückte. „Komm, Eluard!“
Eluard erschrak, er wollte nicht, er hatte Angst vor den Kranken, das war Schmutz und Geschrei und Gestank, und Fremdheit, furchtbare Fremdheit. Er blieb sitzen.
„Was hast du denn?“ fragte Lili und drehte sich um, denn sie war schon halb auf dem Weg. „Nun komm doch, wir wollen gehen.“
Er wollte sagen, ich bleibe hier sitzen und warte auf euch, bis ihr wieder runterkommt. Aber irgendwie brachte er es nicht heraus, er fühlte, sie würden es nicht verstehen, und würden Fragen stellen und in ihn dringen, was würde das für einen Sinn haben … also stand er auf, langsam, widerstrebend, und schloss sich ihnen an.
Und während sie die Treppe hinaufstiegen, spürte er einen Stich von Zorn, ja, das war es, Zorn und Abscheu, da würden die Kranken liegen, die fremden Tiere, von allen bemitleidet, aber dahinter war etwas anderes, etwas Grinsendes, Hämisches, Krötenhaftes, das betrieb das Geschrei und das Stinken, mit Lust, ihn, Eluard, zu erschrecken, und die Kranken tummelten sich in ihrem schmutzigen Stroh und produzierten das Kreischen und Urinieren und Kinderschrecken, jawohl, insgeheim grinsten sie, eine Verlarvung war das, eine Darbietung, eine Machination … sie machten es.
Eine Wirrnis von Zorn und Angst stieg in ihm auf, und die Welt kam ihm entgegen, grinsend aus fetten Lippen, und schnalzte Gebaren und Gehabe, und er musste es betrachten, verständnislos. Es war … als wenn er an einen Pfahl gebunden wäre, und vor ihm, im Halbdunkel, tanzten fette, watschelnde Gestalten, voll unbegreiflicher Hässlichkeit, und zuckten in renkigen Bewegungen, und schnalzten mit stinkenden Fingern unter seiner Nase, dass er zusammenfuhr, und dann lachten sie, dass ihnen der Speichel die Kinne hinunterrann …
„Also, jetzt komm doch endlich“, sagte Lili, stieg ein paar Stufen wieder herunter, nahm ihn bei der Hand und zog ihn wieder hinter sich her, die Treppe hinauf. Die anderen standen schon oben und warteten.
Sie folgten einem langen, hellen Korridor, der hatte hohe Seitenfenster und war weiß gekalkt, ganz reinlich sah alles aus, keine Pilze und kein Schwamm in den Ecken, trocken war das mächtige Gemäuer.
„Morgen darfst du auch meine Puppe halten“, sagte Lili, „das darf sonst niemand, aber dir erlaub ichs.“ Sie hielt Eluard noch immer bei der Hand, und er ließ es sich gefallen.
Kinder, dachte Halbord, der zugehört hatte, und die Brust schwoll ihm.
„Sie heißt Gerlinde“, ergänzte Lili, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte. „Und da sind wir.“
Jeremias, der voran gehüpft war, auf einem Bein und plappernd, hatte eine Tür geöffnet, dahinter war ein Zimmer, und die Kinder gingen hinein, Eluard als letzter, von Lili gezogen.
Ein hoher Raum mit weißen Wänden, und offen die Fenster, dass es ganz luftig war. Nahe bei der Tür stand das Bett mit dem reglosen Großvater Hamann, und unter dem Fenster lag Magdalena. Dazwischen, in ihrem Lehnstuhl, saß breit und behaglich Grand Mère und hielt ein Auge auf beide.
„Oh, bei Vautrin“, sagte sie, als die Kinder hereintraten, „kommt ihr auch einmal, uns zu besuchen, das ist ja eine Ehre, eine große Ehre ..“ Sie sprach mit gedämpfter Stimme, aber nicht flüsternd, gerade so, dass es den Kranken nicht unangenehm sein konnte, auch wenn sie davon erwachen sollten.
„Ja …“ antwortete Waldemar und ging hin zu Grand Mère, und sie küsste ihn. „Na, mein Guter, wie geht es dir?“ fragte sie. „Spielst du schön mit den anderen Kindern?“
„Ja …“ antwortete Waldemar wieder, und Grand Mère blickte hinüber zu der kleinen Gruppe, die zögernd an der Tür stehen geblieben war, und sagte: „Da ist auch Eluard … nun komm doch mal her zu mir, mein Großer, ich freue mich, dass du auch da bist …“ Und auch Eluard ging zu ihr, und sie streichelte seinen Kopf und sagte: „Wie schüchtern du bist … du bist ein guter Junge …“
„Ja“, sagte Lili mit heller Stimme und ganz selbstverständlich, „und wenn ich groß bin, werde ich ihn heiraten.“
Halbord bekam einen ganz dicken roten Kopf.
„Das ist eine gute Idee“, sagte Grand Mère lächelnd, „aber, bei Vautrin“, und sie seufzte, „viel kann noch geschehen bis dahin.“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)