Die Angst der Wecker

Es geschieht immer, woran man am wenigsten dachte, ist eine alte Weisheit des Menschtieres. Wen die Götter vernichten wollen, den schlagen sie mit Blindheit, sagt das Menschtier. Wer untergehen soll, dem wären tausend Auswege, aber er taumelt genau in die Ecke, da der erwartete Treppenabsatz als Kante des Abgrunds sich erweist, und der Verblendete schaut gar nicht hin, er ist sich seiner Sache so sicher, er tritt eine Stufe tiefer, er tritt ins Nichts.

Sonderbarerweise sagt das Menschtier aber auch: Es geschieht immer, was man am meisten befürchtet. Was dir am meisten Angst macht, das wird dich einholen. Da war dieser Schriftsteller, der verliebte sich aussichtslos in eine Hure. Betrogen zu werden, verraten und verlassen zu werden, das war seine tiefste Angst. Die Hure hinterging ihn, das ist so Hurenart. Er schoss sich eine Kugel in die Stirn. Vorher notierte er noch auf einem Zettel: Es geschieht immer, was man am meisten befürchtet.

Der Junge hatte Zeit seiner Leben mal an diesen Satz geglaubt, mal an jenen. Es geschieht immer, woran man am wenigsten dachte. Es geschieht immer, was man am meisten befürchtet. Widerspruch. Was soll nun gelten? Mal dies, mal jenes? Woran soll man sich halten? Im Alter wurde der Junge schlau und entdeckte den Denkfehler hinter beiden Sätzen. Der Fehler war: Angst. Beide Sätze sind in Angst gegründet, und zielen darauf ab, Angst zu machen. Sie schützen nicht einmal vor, helfen zu wollen. Sie wollen nur, in einem Gestus bitterer Lakonie, bekunden, wie schlimm IHRE Welt ist. Wie aussichtslos. Aber IHRE Welt ist weder schlimm noch aussichtslos. Das Menschtier unter der Fuchtel des Lederflügligen ist schlimm und aussichtslos. Die Frage, welcher Satz denn nun gelten solle, entlarvt sich als Lüge, weil die Frage darüber hinwegzutäuschen sucht, dass sie schon immer beantwortet ist. Es gibt nun einmal im Leben der Menschtiere nur eine Kategorie von Sätzen, die verbindlich gelten: IHRE Sätze, die SIE spricht, mit IHRER weißen Stimme. Das Menschtier hört diese Sätze, und es kann nicken in Zustimmung, oder sich verschließen.

Als die Erweckung heranrollte gegen die Hocherweckten, wurde ihnen, anders als der ganzen Menschheit dreihundert Jahre später, kein Sieg. Die Erleuchtung überrollte die Erleuchteten, und das Desaster war grenzüberschreitend. Grenzüberschreitend deshalb, weil die Erleuchtung über die Erleuchtung zunächst nur ein Detail zu betreffen schien. Im ersten Augenblick der Überrumpelung bemerkten die Hocherweckten noch nicht einmal, dass sie überrumpelt waren. Sie übten sich in ironischer Herablassung, sogar in beifälligem Nicken, sie mimten Entspanntheit, und vor allem versicherten sie: Kennich. Kennichdochlängs. Denn was immer der Erweckte sonst noch war, er war vor allem ein Kennich. Niemals überrascht zu sein von irgendeiner neuen Nachricht, gehörte stets zur seelischen Grundausrüstung dee Hochgeleuchts.

Es erwies sich, dass beide Weisheitssätze recht behielten. Die Wecker hatten stets in alle Richtungen geschaut, nur nicht in die, aus der ihnen dann Untergang wurde. Insofern geschah wirklich, woran sie am wenigsten dachten. Es geschah aber auch, was sie stets am meisten befürchtet hatten, ihr eigener Untergang nämlich. Sie waren nie müde geworden zu betonen, dass ihr Untergang der Untergang des Menschengeschlechtes sein würde. Nichts Geringeres. Siegen die Unerwachten, so hatten sie stets versichert, siegen die Unerwachten mit Hilfe ihrer dumpfen Glaubensvorstellungen erneut über die Völker dieser Welt, dann wird ihre Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.

Oder so.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)