Geangste

In den sonderbaren Jahrzehnten zwischen den Toden des Jungen und der religiösen Wende, als eine desorientierte Menschheit hetzte von einer Angsterei in die nächste – die Sache mit der Klimakatastrophe war nur eine von den idiotischen Zwangsvorstellungen –

nein, darauf will ich nicht näher eingehen, nun gut, aber ein paar Andeutungen müssen genügen. Um dem Menschtier Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: es war dies eben das erste Mal in seiner Geschichte auf dem Planeten Erde, dass es einen ganz gewöhnlichen Klimawandel überblickte wie von außen, gleichzeitig ihn erlebend. Die technischen Voraussetzungen waren vorher nicht gegeben. In den Jahrhunderten vor Lebzeiten des Jungen hatte ein jedes Menschtier mehr oder weniger auf seiner Scholle gehockt, und die Wolken und der Regen und die Sonne und die Kälte waren über sein Haupt hinweggegangen, geduckt nahm das Menschtier hin Hagel und Frühlingswind, wie sie eben kamen. Das Menschtier war gewöhnt daran, die Dinge hinzunehmen, wie sie eben kamen. Allenfalls sagten die alten Leute: Als wir jung waren, war das aber alles anders! Da lag im Winter nicht so furchtbar viel Schnee! Oder: Damals waren die Winter noch richtige Winter! Und die jungen Leute lachten und sagten, lasst die Alten reden. Die wenigen aber, die die Segel setzten und andere Himmel sahen, die berichteten zu Hause, woanders ist es wärmer als hier, oder kälter. Das Menschtier fürchtete sich Zeit seiner Geschichte vor dem Wetter, weil es die Ernte verhageln konnte. Das Klima wandelte sich gemächlich, die Generationen wandelten sich mit. Zur Zeit des Jungen war man zum ersten Mal soweit, dass man den Wandel des Klimas durch Messstationen rund um den Erdball dokumentieren konnte, und man entdeckte: da ändert sich was!

Wer hätte das gedacht.

Statt auf die Entdeckung mit Interesse und gespannter Erwartung zu reagieren, reagierte die globale Menschheit, vor allem aber die Menschheit in den wohlhabenden Ländern, mit Flenn und Gehyster und fetzem Gefuchtel. Das Klima wandelt sich! Entsetzlich! Unausdenkbar! Das Klima hat doch immer gleich zu bleiben! Wie wir es gewohnt sind! Der Markt ist schuld, dass das Klima sich wandelt, wir müssen den Markt abschaffen, dann bleibt alles, wie es ist, dann wird wieder alles, wie es sein soll!

Glaubt mir, die Idiotie des Menschtieres kennt keine Grenzen. Sie waren zum ersten Mal so weit, dass sie den Planeten von außen betrachten konnten, ich meine das wörtlich, zum ersten Mal in der Geschichte des Menschtieres schwebten registrierende Sonden über dem Planeten, die beobachteten den Wind und die Meeresströme und den Zug der Wolken, konnten Wärme und Kälte messen, und die Messergebnisse der schwebenden Sonden bestätigten, da wandelt sich was. Na klar wandelte sich was. Das hätte jeder dem Menschtier sagen können, und wenn das Menschtier seinen Verstand zu gebrauchen verstünde, hätte es sich das selber sagen können. Nicht einmal die Berge stehen fest auf dem Planeten Erde, nicht einmal die Kontinente liegen vor Anker an ihrer Stelle. Das Menschtier wusste das übrigens. Die Kontinente driften. Jawohl. Das hatte das Menschtier rausbekommen, es ist unglaublich, was sie alles rausbekommen. Aber sie freuen sich nicht an der Welt, sie freuen sich nicht, in einer Welt zu leben, die jeden Tag den Wandel bringt, die jeden Tag neu ist, jeden Tag unvorhersehbar. Sie angsten. Sie flennen. Sie wussten ganz genau, dass das Klima sich schon tausendfach geändert hatte auf dem Planeten Erde, sie wussten es aus ihrer eigenen Geschichte. Die Küsten waren voll mit Stätten und Ruinen, da lagen alte Kaigemäuer mitten in der Wüste, weil das Meer zurückgewichen war, und anderswo konnte man tauchen nach Tempeln, in denen schwammen die Meermädchen, weil die Wellen einen ganzen Küstenstrich verschluckt hatten. Länder waren dem Meer abgewonnen worden, weite und fruchtbare Gebreite, woanders waren Inseln versunken, und man sah nur noch graue Wellen. Städte gab es, die waren im Laufe der Jahrhunderte landeinwärts rückgebaut worden, den Fluten auszuweichen, und dann wieder küstenwärts nach vorne verlegt worden, um weiterhin Hafen sein zu können. Das Menschtier zur Zeit des Jungen wusste das. Es grub gern nach den Hinterlassenschaften der Altvorderen, und nach überspülten Ruinen zu tauchen, mit all den neuen Zurüstungen der Technik, wurde zu einer eigenen Wissenschaft, wie auch zu einem vielgeübten Hobby. Die Bilder von den Fischen, wie sie bunt zwischen den alten Ruinen schwärmten, wurden in den elektronischen Spielzeugen aller Welt unterbreitet, jeder konnte sich das ansehen. Und dennoch war dies Geheul in der Welt: Entsetzen! Angst! Schrecken! Das Klima wandelt sich! Das darf doch nicht sein!

Wie gesagt, sie haben einen Sprung in der Schüssel. Was den Jungen so erbitterte, war dieser idiotische Mangel an Vertrauen, dieser Mangel an Freude, an Humor. Wieso freut ihr euch nicht, dass die Welt neu wird? überlegte er. Dass die Welt neu ist jeden Tag?

Das Menschtier hatte noch nicht gelernt zu seiner Zeit, in Jahrhunderten zu denken. Alles war neu, da hatte der Junge wohl recht, ganz besonders neu aber war das Bild von der Welt, wie es die neuen Wissenschaften und die neuen technischen Zurüstungen lieferten. Das Menschtier kam nicht zurecht mit all diesen neuen Wundern, es ängstigte sich. Schrecklich, dass sich alles ändert, heulte es. Nichts hatte sich geändert. Der Planet ging seinen Gang, und der Gang war der Wandel. Tautologie. Was sich geändert hatte, war die Perspektive des Menschtieres selbst, und womit es nicht zurechtkam, das war der neue Blickwinkel. Dass die Zeit, da der Junge ein alter Mann wurde, wesentlich ein Zeitalter idiotischer und gegenstandsloser Angst war, war wesentlich dem Umstand geschuldet, dass das Menschtier noch nicht gelernt hatte, mit dem eigenen Perspektivenwechsel zurechtzukommen.

Sie hatten Angst. Zuviel der neuen Dinge, der neuen Perspektiven. Wie damit zurechtkommen? Sie nahmen sich den Lederflügligen zum Berater. Der war der letzte, der Vernünftiges zu sagen gehabt hätte. Ja, fürchtet euch! war seine Botschaft, fürchtet euch sehr! Und sucht die Bösen, die schuld sind! Die euch solche Angst machen! Vor allem die, die euch sagen, ihr müsst keine Angst haben! Das sind die wahren Schuldigen! Denen schlagt den Schädel ein!

Die Jahrhunderte nachher würden Lehrmeister sein. So vieles würde sich wandeln. Es würde die religiöse Wende kommen. Es würde der neue Blick auf die Geschichte kommen, geschaffen durch die neuen Möglichkeiten der elektronischen Archivierbarkeit von Tatsächlichkeiten. Das Klima würde sich auch weiterhin wandeln, und der Planet würde weiterhin sich drehen, und das Menschtier würde sich daran gewöhnen, und irgendwann würde es lachen und sagen: Wovor haben die damals eigentlich solche Angst gehabt?

Vieles geschah zu Lebzeiten des Jungen zum ersten Mal. Zum ersten Mal konnte das Menschtier sozusagen in Echtzeit Krankheitswellen verfolgen, wie sie sich, gestachelt durch einen neuen Erreger, scheinbar unaufhaltsam über den Planeten breiteten. Das hysterische Geangste war enorm. Auch daran würde man sich gewöhnen, würde lernen, Aushilfen und Hilfsmittel bereitzuhalten, und auch daran war nichts und aber nichts neu. Neue Krankheiten waren schon immer über die Menschheit hinweggeglitten, aber in den meisten Fällen hatte man nichts davon bemerkt. Heuer erwischt es aber viele, sagte man wohl, wenn das Husten und Keuchen gar nicht aufhören wollte, kam der Frühling, war’s wieder vorbei, man dachte nicht mehr daran, besuchte die Gräber auf dem Friedhof, der arme Alte, den hat damals auch die Keuche erwischt, im Jahr, als es so schlimm war, was will man machen. Im Gedächtnis blieben nur die wenigen Krankheiten, die als Apokalypse über die Länder gekommen waren, aber das war nicht oft passiert. Zur Zeit des Jungen waren die technischen Ausmittelungen so weit, dass man auch die Verbreitung leichter Infektionen nachvollziehen konnte, und wie reagierte das Menschtier? Angstend. Angstend und hysternd und flennend. Sie machten sich vor neuen Krankheiten in die Hosen, die hätten sie noch hundert Jahre zuvor nicht einmal bemerkt. Das Leben wäre seinen Gang gegangen, und die neue Unpässlichkeit vorüber. Man hätte sich gewöhnt, man hätte sich arrangiert, und die alten Frauen hätten ihre Kräutertees gebraut und die Wadenwickel bereitet. Statt dessen Großflenn und Hyperhyster, mit länderweiten Ausgangssperren und Zusammenbruch des öffentlichen Lebens, der Junge war schon alt, als es zum ersten Mal passierte, er zuckte nicht einmal mehr die Achseln.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 06.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)