Höhenangst

„Dürfen wir rübergehen?“ fragte Lili, und der Tischler antwortete ernst, ohne seine Arbeit zu unterbrechen: „Tut nach eurem Belieben.“

„Also komm“, sagte Lili und nahm Eluard wieder bei der Hand, sie schien ihn gern anzufassen, und er ließ es sich gefallen.

Neben der Bettstelle und dem gemauerten Ofen gab es eine Tür in der Wand, sie schien ins Freie zu führen, ins Leere, und Eluard erschrak, aber Lili sagte: „Komm nur“, und zog ihn weiter und öffnete die Tür.

Anstelle der leeren blauen Luft sah Eluard eine hölzerne Brücke, flachwinkelig überdacht, mit schmalem Seitengeländer, und sie führte hinüber zum nächsten Turm, der besaß auch eine Außentür.

„Gehen wir rüber“, sagte Lili und sprang hinaus auf die Brücke. Eluard folgte ihr vorsichtig, er trat nur bis unter den Türrahmen, und von dort spähte er hinaus, die Brücke, ach, das war ja keine richtige Brücke, eine schmale Planke nur, schwebte da in großer Höhe frei in der Luft, es ging ganz tief hinunter, unten sah man ein kleines Stück des Hofes vor dem Hauptportal, neben der überdachten Treppe … wenn das Seitengeländer wenigstens geschlossen gewesen wäre! Aber es war nur ein schmaler Handlauf, gerade, dass man sich daran festhalten konnte, und unten, neben den Füßen, da war die leere Luft, und die Schwalben schwirrten vorbei.

Eluard zog rasch den Kopf wieder nach innen.

„Was ist denn? Jetzt komm doch …“ rief Lili von draußen, sie war schon fast auf der anderen Seite, bei der Tür dort drüben am anderen Turm, und jetzt drehte sie sich um, die Puppe an ihre Brust gedrückt, und machte eine fragende Geste hinüber zu ihrem Gefährten.

„Ja“, sagte Eluard bekümmert und ein wenig verlegen, weil er sich vor dem Tischler Bertram schämte, „es ist nämlich so, ich kann da nicht rübergehen … mir wird schwindelig …“

„Schwindelig?“ fragte Lili. „Ach, guck doch mal, es ist ganz fest hier!“ Und sie begann demonstrierend auf der Stelle zu hüpfen, mit beiden Beinen, wie es kleine Mädchen machen, und die Brückenplanke wippte nachfedernd mit.

„Nein“, sagte Eluard und schüttelte fest den Kopf, „das geht nicht.“

„Ach“, sagte Lili enttäuscht, „du bist doch dumm.“ Sie blickte sich um nach der Tür, und schaute ein bisschen hinunter in den Hof, dann kam sie wieder zurück. „Also gut“, sagte sie, „wenn du nicht willst, dann gehen wir halt wieder hinunter.“

„Es tut mir leid“, sagte Eluard betrübt.

„Ach, das macht nichts“, sagte Lili. „Wir gehen noch ein bisschen runter und spielen im Hof, bis es dunkel wird …“

„Der Schwindel ist eine ernste Krankheit“, warf der Tischler Bertram ein und unterbrach seine Arbeit. „Es graust auf der Haut, im Kopf beginnt sichs zu drehen, und hops! zieht‘s dir die Beine weg unter dem Leib, da gibt’s kein Halten mehr …“

„Ist das wahr?“ fragte Lili.

„Ja“, antwortete Eluard und sah den Tischler aufmerksam an, „genauso ist es.“

„Oh“, sagte Lili und starrte einen Augenblick überlegend vor sich hin, sie stellte sich vor, wie es einem die Beine wegriss, ihre blauen Augen wurden ganz abwesend vor Nachdenken, dann fiel ihr etwas ein, und sie fragte: „Ist das so, wie wenn man sich zu lange im Kreis gedreht hat?“

„Ja“, sagte Eluard unschlüssig, „ungefähr so …“

„Aber das ist doch schön!“ rief Lili aus. Sie tat es nämlich manchmal, stellte sich hin zwischen die Bäume und legte den Kopf in den Nacken, weit, dass sie den blauen Himmel sehen konnte, aus blauen Augen, und dann drehte sie sich um sich selbst, und der Himmel fing an sich zu drehen, die Baumwipfel wirbelten, und die Wolken tanzten im Kreis, da war kein Halten mehr, kein Aufhören, dreh dich im Kreise, und sausende Räder wirbelten umwärts, mit fliegenden Speichen, die Luft war ein saugender Trichter, und dann wurd ihr, als ob sie fliege, hinein in den Himmel, der war wie unter ihr und um sie auf einmal, und sie flog hinein in die unermessliche Tiefe, wurde hineingesogen wie ein körperloses Pünktchen, hinein in die gewaltige, ortlose Bläue; und dann spürte sie auf einmal die Erde, die gute feste Erde, die hatte sie aufgefangen, als sie fiel, und langsam kam der Wirbel zum Stehen, und da war Lachen und glückliches um Atem Ringen.

Eluard sah sie an, als bäte er um eine Erklärung, und sie sagte sehr ernsthaft: „Wart nur, du wirst sehen … wenn wir unten sind, zeig ichs dir …“

„Ihr wollt schon wieder gehen?“ fragte der Tischler Bertram.

„Ja“, antwortete Lili, „wir gehen jetzt runter.“

Der Tischler trat auf Eluard zu und drückte ihm zeremoniell die Hand. „Wir waren hochgeehrt … und werden uns freuen über jeden weiteren Besuch, den wir empfangen von Euch.“

„Oh“, sagte Eluard, „und Vautrin sei mit Euch, dass Euch die Arbeit gelinge.“

„Des sei Euch Dank“, sagte der Tischler entzückt, „und Glück sei über allen Euren Wegen.“

„Jetzt komm doch schon“, sagte Lili von der Falltür her, halb schon stand sie auf der Treppe.

„Ja, ich komm“, antwortete Eluard und folgte ihr.

Und der Tischler stand strahlend inmitten seines Turmzimmers, den Hobel in der Hand, und mit der anderen Hand winkte er grüßend.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)