Keine Rede

Mit unserer Gemeinschaft kann sich doch gar keine vergleichen, wusste es im Scheißland schon Generationen vor den Geburten des Jungen. Wir sind unvergleichlich! Wir sind die Rettung der Welt! An unserem Wesen soll die Welt genesen. In uns und nur in uns ist die Herrenrasse rein herausgebildet. Allein wir sind Kulturstifter. Wenn woanders in der Welt sich so etwas wie Kultur entwickelt hat, dann war als Stifter einer von uns zugegen. Das wissen die nur alle nicht! Das sehen die nicht! Schlimmer noch, das sehen die sehr wohl, und deshalb hassen sie uns. Deshalb wollen sie uns fertigmachen. Die sehen das, aber sie wollen es nicht wahrhaben. Es soll einfach nicht wahr sein. Weil es aber doch wahr ist, und die das vor sich zugeben müssen, ob sie wollen oder nicht, gibt es für sie gar keinen anderen Ausweg mehr, als uns zu vernichten. Und genau dazu verabreden die sich. Kreisen uns ein, kungeln und verhandeln, feilschen in Hinterzimmern, intrigieren und ruminieren. Haben überhaupt keinen anderen Gedanken als den, wie können sie uns fertig machen. Und ganz so einfach ist das ja nicht. Die müssen sich schon anstrengen! Wir sind stark. Umso mehr hassen sie uns. Die hassen uns ja nicht nur, sie fürchten uns auch. Geduckt schielen sie nach uns, von der Seite her, und lauern, was werden wir jetzt wieder machen? Wir sind denen fremd, denn wir sind anständig, und uns gilt die Sache, allein die Sache, daran erkennen wir uns, daran erkennt uns die Welt, dass wir eine Sache um ihrer selbst willen machen. Um ihrer selbst willen! Die anderen machen die Sache um der Geschäfte willen, wir aber forschen nach dem Wert der Sache, und wenn wir ihren Wert erkennen, machen wir sie um ihrer selbst willen. Wert! Davon wissen die anderen ja gar nichts. Die wissen von nichts den Wert, und von allem den Preis. Wir aber sehen auf den Wert, das ist unserer Stärke, das ist unser Proprium. Nun ja, zugegeben, wir sind stark, aber wir sind auch doof. Immer wenn wir in den Dreck getreten worden sind, berappeln wir uns wieder, und suchen unseren Platz an der Sonne, streiten um unseren berechtigten Platz an der Sonne, machen uns geltend! Gleichzeitig aber überlegen wir und grübeln und denken nach, haben die anderen nicht vielleicht auch ein bisschen recht, so dumm sind wir. Weil wir so gerecht und richtig sind! bedenken wir immer auch die anderen Seite! Die andere Seite aber, die macht sich die Mühe nicht, die lachen über unsere Anständigkeit, die malen Karikaturen, wie treudoof wir sind, wie wir uns alleweil über den Tisch ziehen lassen, in unserer Anständigkeit. Damit muss jetzt aber Schluss sein. Mit eiserner Faust! Haben wir uns vielleicht nicht lange genug an der Nase herumführen lassen wie der Zirkusbär? Am Nasenring? Haben wir uns nicht lange genug verhöhnen lassen? Und immer haben wir gegeben und gegeben, und die anderen haben genommen. Unsere heilige Sprache gar haben wir verleugnet, lassen ein fremdes Wort nach dem anderen ein in unsere Rede, als ob wir das nötig hätten! Was wir wirklich nötig hätten, das wär Reinigung! Sprachreinigung! Da müssen wir uns ran machen! Am Gebrauch der falschen Wörter erkennt ihr sie, die Falschen! Die sprechen auch die Sprachen der Fremden! Unterminieren unsere liebe warme Muttersprache, die trauten Laute! Mit eisernem Besen muss da gekehrt werden!

Dergleichen war im Schwange, als das gewichste Bartvieh herrschte, unser herrlicher Kaiser, sagten sie, während in den Kasernen die Rekruten vergewaltigt wurden, routinemäßig, zuallererst mal musst du den Hintern hinhalten, sonst wirst du kein Mann, wurde den jungen Kerlen gesagt, und wenn sie es hinter sich hatten, dann durften sie sich hinten anstellen, um nun mit anderen das zu machen, was vorher ihnen selber angetan worden war, und vor all diesem stand ein bleierner Vorhang aus Schweigen.

Es ist nicht möglich, lehrten Historiker späterer Generationen, dass an einem Vorgang Tausende und gar Millionen beteiligt sind, und nichts sickert durch. Solche Macht hat Verschwörung nicht. Es gibt immer jemanden, der sich verplappert.

Sie unterschätzten die Macht der Scham. Nicht die Scham der Täter, die Scham der Opfer. Als die Bewohner des Scheißlandes Stiefel anzogen und hinausgingen, in Gesichter hineinzuschießen, vergewaltigten sie alles, was nicht rechtzeitig auf die Bäume kam, bis hinunter zur Ziege im Stall. Wie ich schon ausführte, darüber kamen erste Gerüchte in Umlauf, als der Junge schon ein alter Mann war. Die überlebenden Opfer erinnerten, dass ihre Leidensgenossen ermordet worden waren. Dass die Stiefel sie vorher vergewaltigt hatten, kam ihnen nicht über die Lippen. Man klagte die Untaten der Ärzte an – die Ärzte selber nur ausnahmsweise – man klagte also die Untaten an, als welche die Tötung von Ballastexistenzen bewirkt hatten. Ballastexistenzen. So nannten die Stiefel, also die Bewohner des Scheißlandes, Menschwesen, die ihrer Meinung nach nicht lebenstüchtig waren, weil sie der Fürsorge bedurften. Was der Fürsorge bedarf, so die trabende Theorie, ist schwach, was schwach ist, zieht herab die Starken, die Starken allein aber sind, die das Lebensrecht haben. Allein Stärke ist Recht! Stärke setzt das Recht! Das Leben fragt nach Schwäche nicht, nach Stärke fragt das Leben! Nur die Stärke verdient Beistand und Zustimmung, denn die Schwäche vergiftet das Leben. Wer die Schwachen fördert, entkernt das Leben selbst. Pflegt nicht die Pflanze, an der die Läuse sitzen! Ins Feuer mit der! Denn sie wird die gesunden Pflanzen anstecken, und zum Schluss sind alle krank. Das ist, was die Kranken machen. Sie stecken die Gesunden an. Deshalb fort mit denen. Wer das Kranke schont, vergiftet den Volkskörper.

Die gestiefelten Ärzte, die gestiefelten Sanitäter, bevor sie die Kinder ermordeten, indem sie ihnen die Giftspritze ins Herz senkten, bevor sie so taten, vergingen sie sich an den Wehrlosen. Über die Tötungen wurde nachher geredet. Über das steile Lüstchen, das die Mörder dabei sich gegönnt hatten, nicht.

Ja.

Es ist möglich, dass Dinge tausendfach passieren unter den Augen des Menschtiers, und niemand redet darüber. Das war ja das Problem, vor dem die Nachlebenden zur Zeit der Konzentranze und der Abortforschung stehen würden, dass sie nicht mehr glauben und erst recht nicht verstehen mochten, wie das denn möglich gewesen sein solle, dass da Millionen und Abermillionen wehrloser Kinder, IHRE Kinder, im Mutterleib ermordet worden waren, und es war nicht darüber geredet worden?

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 04.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)