„Weißt du, was ich mir oft vorstelle?“ fragte Lili. „Ich stell mir vor, das hier, das wär die Kehle von ‘nem Riesen, ja, die Gurgel, und ich säß da drin, und er hätt vergessen, mich runterzuschlucken …“ Sie brach ab und schaute Eluard mit großen Augen an.
„Ja“, sagte Eluard, „und da oben, das wär dann der Kopf, und da kann man rausgucken, zu den Augen …“
„Hmmm“, machte Lili, „das ist doch schön, oder?“
Sie saßen, Lili und Eluard, mitten im Turm, auf einer der Steinstufen der Wendeltreppe, die hinauf in die Wohnung des Tischlers Bertram führte. Ein enges Fenster war in die Mauer eingelassen, oder eher ein Durchstich, man konnte eben den Arm hineinstecken, und so fiel etwas Licht in das Treppengehäuse, doch dämmrig und diffus, denn die Mauern waren dick, weit dicker, als ein Kinderarm lang ist.
Eluard spähte nach unten, da verschwand die Treppe mit einer Linksbiegung im Dunkel, und hinter ihm drehte sie sich nach rechts, dort wurde es auch wieder finster, es konnte einem schwindelig werden.
Und die Stufen! Es ging nun eben an, dass die beiden Kinder nebeneinander saßen, aber für einen Dritten wäre kein Platz mehr gewesen, die Stufen waren breit an der Außenmauer, und zur Mitte, zur Spindel hin wurden sie immer schmaler, ganz innen konnte man nicht einmal mehr darauf sitzen.
Eluard drehte den Kopf in den Nacken und schaute zweifelnd nach oben. „Stell dir mal vor“, sagte er, „wie das wäre, wenn das hier immer so weiterginge … ja, das würde gar nicht mehr aufhören, und wir würden jetzt hier leben, für immer, und immer da hochwandern …“
„Ja“, fiel Lili eifrig ein, „ und alle paar Stunden, da käm ein Absatz, und da hätt einer was zu essen hingestellt, und dort würden wir ein bisschen bleiben und uns ausruhen, und dann würden wir wieder weitergehen.“
„Aber wer würde da Essen hinstellen?“ fragte Eluard.
„Hm“, machte Lili, „das wär eben ein Geheimnis, wir würden das nie rauskriegen, aber da wär jemand, und der würde für uns sorgen und auf uns aufpassen, und immer, wenn wir was brauchen, da wär es auch schon da, ja …“
Sie schwieg und schaute aus blauen Augen vor sich hin, ganz weit weg war sie, dann fuhr sie fort: „Ja, und Tiere wären da auch in der Treppe, und mit denen dürften wir spielen …“
„Tiere?“ fragte Eluard.
„Ja, Tiere. Eichhörnchen … und dann käm eines Tages ein großer Sturm, und wir wären auf einmal in einem großen Wald. Und ganz finster wärs da, und auf einmal …“
Sie brach ab, und Eluard schaute sie an von der Seite. „Ach“, sagte sie, „das erzähl ich dir ein andermal, jetzt gehen wir weiter. Komm …“
„Ja“, sagte Eluard, und sie standen auf und fuhren fort, die Treppe zu erklimmen.
Immer, wenn ein und eine halbe Drehung um die Spindel herum vollendet waren, fand sich ein enger Mauerdurchbruch, durch den etwas Licht hereinfiel, aber dazwischen war es finster, dass man die Hand nicht vor Augen sah, und Eluard tastete sich mit dem Fingern an der Wand entlang, sonst hätte er die Orientierung verloren. Lili, die den Weg ja schon oft gegangen war, tat sich weniger schwer und hüpfte voran, doch als sie merkte, dass Eluard nicht nachkam, blieb sie stehen und wartete auf ihn, in der Nähe eines Fensters, damit er sie sehe und nicht in sie hineinlaufe.
„Gleich sind wir da!“ sagte sie mit heller Stimme, wie neulich in dem dunkeln Korridor vor dem Großen Saal.
Wirklich, dort oben schien es hell zu werden, und dann sah Eluard das Ende der Treppe, als ein lichtes Quadrat, eine geöffnete Falltür, und gleichmäßig schleifende Geräusche drangen herunter.
„Komm!“ rief Lili von oben, und Eluard nahm mit Erleichterung die letzten Stufen, und dann musste er blinzeln, so hell und luftig war es in der Wohnung des Tischlers.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 01.05.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)