Gemeinschaft

Verzeihung? Ja, wir sind Zwillinge. Wenn ich sage, meine kleine Schwester, meine ich nicht, dass sie jünger ist als ich. Ich beziehe mich eher auf unser Verhältnis. Das spielt hier aber keine Rolle. Jedenfalls, auf Freundschaft mit den Menschtieren ist mein Schwesterchen gar nicht aus. Sie ist aus auf Schabernack und Mutwillen, sagte ich ja schon oft genug. Sie ergötzt sich daran, den Menschtieren Streiche zu spielen. Wobei sie sich nicht einmal anstrengen muss, denn die schärfsten und dicksten Streiche spielen sich die Menschtiere selber, da braucht es keine Nachhilfe.

SIE kam einmal vorbeigeschlendert, als Schwesterchen auf meinem Schoß saß und mir Sachen ins Ohr flüsterte, Sachen, die ich noch nicht wusste, das tut sie immer mal wieder, um mich auf dem Laufenden zu halten. Sag ihm nicht alles, sagte SIE im Vorübergehen, mit IHRER weißen Stimme, und Schwesterchen legte den Finger an ihre Lippen, Geste, die ich mir nicht zu deuten wusste. Wollte sie nur das Verhalten eines schuldbewussten Menschkindes imitieren, oder andeuten, dass sie schweigen würde? Und war das ernst gemeint, sag ihm nicht alles? Und wenn ja, dann hieß das ja wohl, manches dürfe sie mir sagen, anderes nicht. Wenn so, was dann durfte sie, was dann durfte sie mir nicht sagen? Oder sollte ich nicht einmal wissen, was es ist und dass da noch etwas ist, was ich nicht wissen darf? Oder machte SIE sich nur einen Spaß mit uns beiden? Oder nur mit mir? IHR schräger Humor. Möglich auch, dass es ein Spaß zwischen den beiden war, auf meine Kosten. IHR schräger Humor. Auf jeden Fall gefiel die Sache meiner kleinen Schwester, erst schmollte sie kunstvoll, weil ich so lange IHR hinterhersah, und dann zog sie mich damit auf, was sie mir zur Strafe jetzt alles nicht sagen würde. Da wir aber Geschwister sind, habe ich von ihr mindestens so viel wie sie von mir, und oft genug errate ich umstandslos, worum sie gerne ein Geheimnis gemacht hätte. Sie kann dann aus der Haut fahren. Woher weißt du das? fragt sie und funkelt mich wütend an. Wenn ich dann sage, hab geraten, gefällt ihr das nicht, aber sie muss es akzeptieren, weil es die Wahrheit ist, und die Wahrheit erkennt sie, denn die Wahrheit ist sie selber.

Ihren Drang zu Schabernack und Streichen aller Art teile ich nicht. Lach doch mal, sagt sie. Du bist viel zu ernst.

Nein, ich bin nicht lustig.

Ich bin froh, dass sie in der Welt ist. Wäre einsam für mich, ohne sie.

Wenn die Menschtiere so richtig die Katastrophe bringen über ihre Häupter, wenn sie zielstrebig dem Unheil entgegentaumeln, immer unter lauten Schreien, dorthin! da müssen wir lang! dort wartet das Heil! dann sieht der Lederflüglige oft sprachlos zu und fasst es nicht, wie genau und passend sich alles fügt. Er hat diesem Menschtier das eingeflüstert und jenem etwas anderes, immer ad hoc und immer niedrig und immer bösartig, und plötzlich, hastdunichtgesehen, fügt sich alles zur großen Bewegung, ein Zähnchen greift ins andere, in mächtiger Inbrunst erhebt sich fauchende Megamaschine und frisst die Menschtiere und frisst Moral und Anstand und Vernunft und Offensichtlichkeit und alles. Einfach so. Ohne vorhergehenden Plan, ohn listigen Bedacht. Der Lederflüglige aber, dies beobachtend, fällt in Trunkenheit, alles für Wirkung seines Planens und seiner Schlauheit nehmend. Ich wusste ja, ruft er, ich wusste ja, dass ich gut bin, aber dass ich so gut bin, das hätte ich doch nicht gedacht.

Und er nimmt daraus die Überzeugung, dass er morgen noch besser sein würde, als er heute schon sei. Das Menschtier macht es ihm leicht, in diesem Glauben zu verharren. Es ist ja nicht so, dass er sich anstrengen müsste. Muss künftig das Ding, wie es ihm schon einmal Erfolg gebracht hat, einfach nur genauso drehen. Um Varianten muss er sich da keine Gedanken machen. Sobald sich die Gelegenheit bietet, wird er dem einen Menschtier das zuflüstern, dem anderen jenes, und wieder heben an die Rädchen, ineinanderzugreifen, die Maschine beginnt zu pumpen und zu fauchen, nach einmal etabliertem, nach einmal bewährtem Muster. Dass aber das Muster so ist wie es ist, beruht auf reinem Zufall. Wären die Umstände zur Zeit seiner Gestehung etwas anders gewesen, hätte das Muster anders sich gebildet, und die Geschichte des Menschtieres, anders würde sie laufen. Hier herrscht kein Plan, hier herrscht keine Notwendigkeit, und den Überblick behält nur noch meine ältere Schwester, die destinatorische Zurüstung.

Abgesehen von IHR, versteht sich.

Das Menschtier müsste in Verzweiflung versinken, wäre da nicht IHRE Gegenwart. Das Menschtier kann sich IHR zuwenden, jederzeit, in jedem Augenblick. In jeder Minute kann das Menschtier die Hand ausstrecken, und Rettung wird. Ob es verlangend die Hand ausstreckt, liegt in seiner Freiheit.

Die Wahrheit ist, die fundamentale und erste Wahrheit, dass IHRE Stimme in jedem Menschtier spricht, klar und vernehmlich. Hierin liegt die tiefe Einheit und Einigkeit des Menschwesens, hierin auch die Gemeinschaft aller Menschwesen, weit entfernt von den schmutzigen und versudelten Gemeinschaften, die es sonst bildet, mit wechselnden Begründungen. Gemeinschaft ist Schweinschaft, sagte der Junge, in der klaren Einsicht, dass es nur eine einzige Gemeinschaft der Menschtiere gibt, die diesen Namen wirklich verdient: die Gemeinschaft der Menschtiere nämlich als der Gemeinschaft der Wesen, in denen IHRE Stimme spricht. Die Gemeinschaft der Menschtiere ist Gemeinschaft nur insofern, als in ihnen allen die gleiche Stimme spricht. Alle andere Gemeinschaft unter den Menschtieren ist angemaßte, ist erlogene Gemeinschaft im Augenblick, da sie fordernd auftritt. Unterwerfung einfordernd. Mitmachen einfordernd. Alle Gemeinschaft unter den Menschtieren, die sich auf andere Legitimation beruft als auf das Hören IHRER Stimme, ist Gemeinschaft, die sich erst ausweisen muss: vor dem Gewissen des Einzelnen. Der Einzelne mit seinem Gewissen ist es, der jeder anderen Gemeinschaft als der, die aus dem Erklingen IHRER Stimme sich herleitet, die Gefolgschaft versagt oder gewährt. Zur Gemeinschaft der Wesen, in denen IHRE Stimme erklingt, gehört ein jedes Menschtier unentrinnbar. Es kann sich nur in Gebrauch oder Missbrauch seiner Freiheit entscheiden, IHRE Stimme zu überhören. Aber selbst wenn das Menschtier IHRE Stimme überhört, erklingt sie immer noch. Zu aller anderen Gemeinschaft gehört das Menschtier nicht durch Entscheidung der Gemeinschaft, sondern nach seiner eigenen. Alle Gemeinschaft, mit Ausnahme dieser einzigen, ist legitimiert ausschließlich durch die Gewissensentscheidung des Einzelnen. Durch die Entscheidung des Einzelnen, mitzumachen oder das Mitmachen zu versagen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)