Die Stunden sind so gleichförmig, die Tage …
Grand Mère saß auf ihrem Stuhl und döste vor sich hin. Noch drei Stunden, dann würde die Frau Elisabeth sie ablösen, der Morgen dämmerte schon, da war ein grauer Streif, da draußen, irgendwo, oder bildete sie sich das nur ein?
Ach was, die Zeit verging, wie Vautrin es wollte.
Grand Mère stand auf, reckte ächzend die alten Knochen und beugte sich über Magdalena.
Keine Veränderung.
Grand Mère fühlte vorsichtig mit der Hand, das Fieber stand unverändert hoch, wie seit zwei Tagen, papiertrocken jetzt die Haut, die Lippen aufgesprungen. Unruhig der Schlaf, im Dämmer der Bewusstlosigkeit, ab und zu erwachte Magdalena, öffnete die Lider ein wenig und blickte umher, ziellos, aus flackernden Augen, die Finger tasteten auf der Decke. Man müsste sie baden, dachte Grand Mère, aber das ging nicht an, bevor nicht das Fieber wieder sank, die Kranke war verklebt und verschmiert am ganzen Leib, aus den Haaren strömte ein starker tierischer Geruch, auch konnte sie das Wasser nicht mehr halten, man musste sie umbetten zwei- oder dreimal des Tages.
Grand Mère zupfte die Decke zurecht, wischte mit einem feuchten Lappen über das glühende Gesicht. Oh! Sie spürte, dass sie alt wurde, das unentwegte Hocken im Stuhl, es fuhr ihr in die Knochen, in Kreuz und Hüften zumal, nun ja, das war nicht zu ändern.
Sie streckte sich wieder, dass es krachte, im Stehen, die Hände in die Seiten gestemmt, dann riss sie den Mund auf und gähnte, bis ihr die Tränen kamen.
So, jetzt ging es besser.
Sie trat zum Fenster und spähte hinaus. Finstere Nacht. Nein: noch lange nicht Morgen. Als graue Masse zeichnete sich ab der Hauptbau des Hauses, verschwommen, und still stand der Wald des Innenhofes, wartete auf die Ankunft des Tages.
Kühl wurde die Nachtluft und feucht, Grand Mère zog den schweren Vorhang zu. Wart noch, über ein Kurzes, dann werden Vögel singen.
Man hatte Magdalenas Bett unter das Fenster geschoben, damit sie frische Luft habe, ursprünglich hatte dort der alte Großvater Hamann gelegen, aber der würde ja nun sterben, so hatte er den Platz weiter innen im Zimmer bekommen, nahe der Tür.
Die Betten bestanden aus niedrigen Holzgestellen, man musste sich hinunterbeugen, wenn man mit der Kranken und dem Sterbenden umgehen wollte, und als Unterlage diente Stroh, frisch und trocken, davon lag in einem Winkel des Zimmers ein ganzer Ballen, in einem provisorischen Holzgestell, das hatte der Tischler Bertram hier gezimmert. Wohlhabend war das Haus, sorgte gut für seine Gäste und für alle, die kamen und der Hilfe bedurften.
Grand Mère ging und beugte sich über den alten Großvater Hamann. Da lag er nun, und befasste sich mit seinen letzten Atemzügen. Alt, so alt. Das Gesicht war eingefallen, hager war er wohl schon zu Lebzeiten gewesen, man würde ihn heute rasieren müssen, silbergrau schattete der Stoppelbart auf seinen Wangen. Er lag auf dem Rücken, den Kopf trotz des Kissens in den Nacken geworfen, die Nase starrte spitz in die Luft, und der Unterkiefer war ihm niedergesunken, so dass das Mundloch offen stand, und aus dem Hohlen heraus röchelte und rasselte es, das war das Leben. Auf der Wange klebte dünn ein festgetrockneter Schleimfaden, Schneckenspur, Grand Mère runzelte die Stirn und griff zu dem feuchten Lappen, der auch hier in einer Schüssel neben dem Bett lag, und entfernte die Spur. Der Alte merkte es nicht, lag unverändert da und kämpfte rau und krächzend um jeden Atemzug, um jeden einzeln für sich, sorgfältig abgesetzt. Seine Augen waren eingefallen unter den dünnen Lidern.
Seit zwei Wochen lag er so da, und er starb nicht.
Grand Mère schlurfte zurück zu ihrem Lehnstuhl und setzte sich, aufseufzend, und sah Magdalena an, die Frau ihres Sohnes Aslan.
Magdalena hatte sich gewendet im Bett, lag auf der Seite, die Augen geschlossen. Das strähnige Haar fiel ihr über das Gesicht, die Haarschleife hatte sich gelöst, und die blutig aufgesprungenen Lippen standen einen Spalt weit offen, kurz und flach ging der Atem. Sie roch nach Schweiß und Urin, durchdringend, es war nur gut, dass sie davon nichts merkte, die arme Magdalena, sie war so reinlich sonst! Die Haut wehrte sich gegen das Fieber, aus Stirn und Kinn brachen entzündliche Pickel hervor, es nützte nichts, dass Grand Mère das Gesicht immer wieder abwusch, gegen die murmelnden Proteste der Kranken.
Wusste Magdalena, wie es um sie stand?
Schwer zu sagen: sie war versunken in ihre Krankheit, jede Faser ihres Leibes lebte dem Augenblick, da war kein Raum für Wissen und Denken. Schmerz und Fieber und Mattigkeit, Todesmattigkeit waren da, aber ob Magdalena noch da war? Sie war die Krankheit, und die Krankheit lebte an ihrer Stelle.
Draußen auf dem Korridor raschelte es, und dann öffnete sich die Tür, und Inge trat herein, leise, auf Zehenspitzen.
„Ach, du bist es, mein Kind“, sagte Grand Mère.
„Ja“, antwortete Inge. „Wie steht es?“
Sie trat vorsichtig näher, beugte sich über Magdalena.
„Unverändert“, sagte Grand Mère.
Inge kniete nieder neben ihrer Mutter, strich ihr die Haare aus dem Gesicht, mit streichelnder Bewegung, und betrachtete sie. Magdalena bewegte murmelnd die Lippen, aber das war nicht der Versuch, etwas zu sagen, nur ein Reflex, ein Lebensrest, sie war wie ausgelöscht, ersetzt durch das Fieberbündel an ihrer Stelle. Inge begann zu weinen, sie weinte so leicht in letzter Zeit, und küsste ihre Mutter auf die Stirn, die heiße, papiertrockene Stirn, und flüsterte: „Mama, hörst du mich nicht?“
Grand Mère stand eilig auf, doch geräuschlos, und zog Inge am Arm zurück. „Sch“, machte sie, „weck sie nicht auf, es ist gut, dass sie schläft …“
Inge wischte sich mit dem Handrücken die Augen, und da Grand Mère sich wieder setzte, hockte sie sich neben sie, auf den Fußboden. Grand Mère streichelte ihr den Kopf, dann seufzte sie und sagte: „Ja, so ist das, mein Kind.“
Inge blickte hinauf zu ihr und fragte: „Und was wird werden?“
Grand Mère schüttelte mit Bedacht den Kopf und antwortete ruhig: „Das kann niemand sagen. Mit Vautrins Hilfe … Wir pflegen und geben die Tränke und Säfte, die wir gewinnen aus Kräutern und Pflanzen, und aus den großen Bäumen; was aber weiter wird, das steht nicht in unserer Macht. Drei Tage oder vier wird das Fieber bleiben auf gleichem Stand, dann wird es noch steigen, kurz und stark, und sinkt gleich darauf wieder ab … entweder dies, oder …“ Sie zögerte einen Augenblick, dann schloss sie mit fester Stimme: „ … oder die Kranke stirbt.“
Inge schluchzte, kurz und erstickt, dann fragte sie mit einem Blick hinüber zu dem Großvater Hamann: „Und der da?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Grand Mère. „Vautrin will ihn noch nicht abberufen, schon eine lange Zeit liegt er so, und kämpft um sein Leben wacker, zäh ist er, noch lange kann das so gehen …“ Sie schwieg, und sprach nicht aus, was sie dachte: dass der Alte wohl Magdalena noch überleben könne.
Inge hockte und betrachtete den Großvater Hamann: da lag er, offen der Mund, über der langen Kehle mit dem spitzen Adamsapfel, und focht seine kleine Partie mit dem Tod, oh, er hatte ja gar keine Aussicht, sie zu gewinnen, so klein ist ein Menschenleben und so groß der Tod, und doch hatte er nicht einen Augenblick gezögert, den Kampf aufzunehmen, hatte sich gestellt, mit dem Rücken zur Wand, und sich gewehrt, es ging um das Leben, es war ja nicht wichtig, an sich, und doch …
Er lag ganz still, das Gurgeln in seiner Kehle war das einzige Lebenszeichen, sonst rührte er sich nicht. Ausgestreckt ruhten die Arme zu Seiten des Leibes, und Inge sah die knochigen Altmännerhände, lang und dürr, auch die Finger waren gerade ausgestreckt, als hätten die Sehnen schon ihre Spannkraft verloren, verschrumpelt und faltig war die Haut, man sah ihr an, dass sie kein Gefühl mehr weitergab …
Aber er lebte noch, röchelnd und beharrlich.
Draußen begann ein Vogel zu singen, glitzernder Lauf von Tönen, perlende Kadenz, Silbertropfen in der Weiße der Morgennebel.
Grand Mère atmete auf. „Die Nacht ist vorbei, mein Kind“, sagte sie und strich Inge über das Haar. „Geh nur, die anderen werden bald aufstehen …“
„Ja“, antwortete Inge und schaute ihre Mutter an und begann wieder zu weinen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 29.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)