Der fliegende Teppich

Waldemar saß mit Halbord und Jeremias ganz vorne am Rand der Plattform, sie ließen die Beine baumeln, schön war es, auf dem Ausguck zu sitzen, auf fliegendem Teppich mitten in dem hohen Hallenraum.

„Pass mal auf“, sagte Halbord zu Waldemar, „das gibt ein ganz komisches Gefühl, wenn du hier sitzt, und du musst dich festhalten, ja, so“ – er griff mit beiden Händen nach dem Rand der Plattform – „und dann musst du erst nach unten schauen und dann ganz nach oben, dort hoch …“ Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben.

Waldemar tat es ihm nach, er kannte das, es verfehlte nie seine Wirkung, es war, als ob das Gewölbe sich auf den Kopf stellte, das gab ein ziehendes und schwindelndes Gefühl im Magen, und für einen Augenblick wusste man nicht mehr, wo ober war und wo unten – herrlich war das.

Eluard, etwas weiter entfernt vom Rand, sah ihm mit Missbehagen zu, er war nicht schwindelfrei und hätte es nie über sich vermocht, sich so dicht an die Tiefe zu setzen, gar die Beine hinunterhängen zu lassen …

„Willst du mal mit mir zu dem Tischler Bertram kommen?“ fragte Lili.

„Der im Turm?“ fragte Eluard zurück.

„Ja.“

„Das wär schön“, sagte Eluard. „Und man kann ganz weit hinaussehen, ins Land?“

„Ja“, antwortete Lili, „man sieht sogar die Berge, und ich hab es mal im Winter gesehen, oh, da war alles weiß, alles, wohin du auch geschaut hast … aber jetzt ist es auch schön, die Berge sind ganz blau, das wird dir gefallen.“

Sie sprach allein zu ihm und schloss die anderen aus, das war Eluard ein bisschen peinlich, aber andererseits gefiel es ihm auch, das war eine Auszeichnung, er spürte es wohl, und auf den Tischler Bertram war er auch gespannt, ein Mann, der im Turm wohnte, der musste des Kennenlernens wohl wert sein.

„Wohnt er ganz allein da oben, der Tischler Bertram?“ fragte er.

„Oh nein“, entgegnete Lili, „nicht allein, ich komm ja immer und besuch ihn.“

Jeremias wippte mit den Beinen, es war ihm schon wieder langweilig.

„Können wir nicht was spielen … ich will was spielen“, sagte er in quengelndem Tonfall.

Halbord sah auf den Zwerg hinunter, von der ganzen Höhe seiner acht Jahre, und meinte mit Würde: „Nie kannst du stillsitzen, wirklich …“ Dann wandte er sich an Waldemar und fragte: „Und wie ist das bei euch, auf den Wagen?“

„Oh“, begann Waldemar, „ich hab da einen eigenen Platz, mit Eluard zusammen natürlich, der gehört uns ganz allein, ja, vor dem Melassefass … und da spielen wir, und dann können wir rausgucken, hinten zu der Plane, wie es fährt, oder manchmal bin ich auch vorne auf dem Kutschbock, hinter den Ochsen, ja, dann guck ich Aslan zu, wie er kutschiert, oder Roger …“

Das war nun alles nichts Besonderes, aber diese Dorfkinder hörten zu, mit gebanntem Blick und offenem Mund, als erzähle er die spannendste Geschichte: und das war es wohl auch für sie, eine spannende Geschichte, das Fahren auf den Wagen, mit Neid und Sehnsucht dachten sie daran, sie ahnten nicht, dass das auch rechtschaffen langweilig werden konnte, immer im gleichen Tritt die Ochsen, und das langsame Ziehen des Weges, des Weges …

Einen Augenblick war Schweigen, dann verdichtete es sich in Jeremias, und er platzte heraus: „Habt ihr es gut!“

Das war es, das war die Empfindung, die sie immer hatten in den Dörfern: hast du es gut! Aber schmeichelhaft war das doch auch, und Waldemar widersprach nicht.

Lili sagte nichts dazu, sie machte sich nie Gedanken darüber, ob die Dinge auch anders sein könnten, als sie waren, sie nahm sie hin, wie sie kamen.

Im Augenblick war sie glücklich, weil Eluard neben ihr saß.

„Also gehen wir jetzt?“ quengelte Jeremias erneut.

„Also gut“, sagte Halbord mürrisch, er konnte diese Unruhe nicht leiden; wenn er mal saß, saß er, so machten es auch die Erwachsenen, besonders Dietrich, und so wie der wollte er ja mal werden. „Also gut, wenn du unbedingt willst … was machen wir dann?“

„Gehn wir hinaus, hinaus in den Hof“, schlug Lili vor. „Wir zeigen ihnen den Brunnen … habt ihr den Brunnen schon gesehen?“

„Nein“, sagte Eluard.

„Der ist ganz tief“, sagte Jeremias, „und unten hört mans glucksen, haha, glucksen …“ Er freute sich über das plätschernde Wort.

Halbord schwieg vor sich hin, so tief war er nicht, der Brunnen, schließlich floss der Fluss direkt am Haus vorbei, und der Grundwasserspiegel … aber das war Erwachsenenwissen, und diese Kinder, was wussten die schon, das waren halt Kinder.

„Also gut“, sagte er, „gehen wir und schauen nach dem Brunnen.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)