Wahre Größe

Die habituelle Wut der Pferdeschnauzigen speiste sich nicht zuletzt aus der Zumutung, für ihren Unterhalt arbeiten zu müssen. So sehr es ihr gefiel, zu urteilen und zu demütigen, so sehr weste sie in der Überzeugung, groß zu sein aus sich selbst heraus. Sie empfand es als Unverschämtheit, ihre Größe auch noch bezeugen zu müssen. Ihre Größe verstand sich doch von selbst! Von solchen Stoffeln war sie umgeben, dass sie ihre Größe immer wieder bestätigen musste. Zuweilen bekam sie eine Rezension vom Chef zurück, überarbeite das noch einmal, Mädel, so geht das nicht. Sie erstickte fast vor Wut, reiner, unvermischt infantiler Wut. Ich bin groß! Und unter solchen Stoffeln lebe ich, dass die das nicht sehen! Dass ich was vorzeigen muss, als wär ich wer, der das nötig hat! Die Unterdrückung! Halten sich für die Herren der Schöpfung! Haben die Macht! Können mich zwingen! Darum geht es denen! Mich zwingen! Mich die Macht spüren lassen! Spüren meine Überlegenheit, und deshalb wollen sie mich auf den Knien sehen! Die genießen das!

In solchen Anfällen erreichte sie ihren Kern, brach sie durch zu ihrer Wahrheit.

 Ich muss nichts können ich muss nichts leisten! Ich muss euch nichts zeigen ich muss euch nichts beweisen! Für was haltet ihr euch! Ihr seid Dreck! Der letzte Dreck! Ihr habt mir gar nichts abzuverlangen! Ich bin ja schon grandios! Das sieht nur niemand, weil wir Frauen immer verkannt werden! Immer!

Wer hätte in sie hineinschauen können, hätte gedacht, hat einen Knall, das arme Wesen. Braucht Behandlung. Man müsste ihr mal gut zureden. Würde das was nützen? Sieht sie nicht, dass alle was vorzeigen müssen, wenn sie was gelten wollen?

Das war der Punkt. Sie wollte nichts vorzeigen müssen, um was zu gelten. Sie empfand das Vorzeigenmüssen als Zumutung, als Beleidigung. So wie sie der Überzeugung war, wahre Größe kann alles „so“, wollte sie gelten „so“. Sie war groß, und wollte erkannt werden, sie keuchte entgegen dem Tag, sehnte sich, wartete entgegen dem Tag, der ihre Größe einer bestürzten Welt offenbaren würde, einer schuldigen Welt, einer Welt, die ihrer Schuld nun inne würde, Schuld, die Größe verkannt zu haben … und die Größe sollte offenbar werden „so“. Einfach so.

Sicher, übergeschnappt. Könnte man so sagen. Aber induzierte Übergeschnapptheit, eingeflüsterte Übergeschnapptheit. Muster, das sich nicht verlieren sollte im Strom der Zeit, im Gegenteil.

Ganze Generationen würden so aufwachsen.

Noch die Grimmvettel war groß geworden in der Gewissheit, dass sie was tun musste für ihr täglich Brot. Sie wäre auch gern grandios gewesen, eine große Künstlerin, sie war nur Hausfrau geworden, immerhin Hausbesitzerfrau, immerhin. Wie ich schon berichtet habe, sie putzte züchtigend, prügelte die Wäsche, peitschte die Kloschüssel, trampelte nieder den Teppich. Das war die Wut. Aber unerachtet aller Wut tat sie, was man von ihr erwartete. Putzte kochte. Die Pferdeschnauzige schrieb in zusammengebissener Wut ihre Rezensionen, Trost empfangend aus der Gewissheit, dass wenigstens das gedruckte Wort ihre Größe bezeugte. Die leidende die belästigte Größe ihrer Gefühle! Das Putzen und Kochen machte sie so kurz ab wie möglich, und war es nicht eine beleidigende Zumutung, dass sie überhaupt irgendetwas vorweisen musste? Sie war doch groß auch so!

Auf der Couch zu liegen und von ihrer Größe zu träumen, wurde zu ihrer Lieblingsbeschäftigung. Die langen Samstagnachmittage. Nicht einmal husten durfte der Junge, hinter den drei geschlossenen Zimmertüren, die ihn von dem Pfühl der Erhabenen trennten, er lief das Risiko, sie herauszujagen aus ihrem Heldenschlummer, sie würde über ihn kommen in rasender und spuckender Wut, gerissen aus ihren Träumen ihren Visionen ihren heraldischen Akklamationen von Größe und erfülltem „So“, und ihre Pupillen würden stechende Stecknadelköpfe sein. Sie nannte ihre Traumzustände „dösen“, und wenn sie „döste“, war sie an Heiligem Ort.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)