Lili schaute immer noch dem Schattenspiel zu, kein Gedanke störte ihren kleinen Kopf, nur Stille war darin, so etwas wie die ferne Bläue eines Herbsttages, mit ziehenden weißen Wolken … sie würde einmal zu den blonden Frauen gehören, die sehr einfach sind und klar, man kann nichts von ihnen sagen als dass sie leben, auf eine eigene Weise, mancher sagt, sie seien dumm, doch ist das Unrecht.
„Der Großvater Hamann liegt da oben“, sagte sie endlich, „oh, schon so lange, sie sagen immer, es geht mit ihm zu Ende, er ist ein ganz alter Mann, er ist so alt, dass es gar keiner weiß …“ Sie schwieg wieder.
Der Großvater Hamann war schon zu seiner besten Zeit nicht sehr lebendig gewesen, hatte die Tage verträumt in dunklen Ecken, im Lehnstuhl, zum Fenster hinausgestarrt. Jetzt lag er da oben, hielt sich fest an seinen letzten Atemzügen, zäh und beharrlich, und Magdalena lag im gleichen Zimmer mit ihm, das war einfacher so, eine Person konnte sie hüten alle beide.
„Das ist groß, euer Haus!“ sagte Waldemar.
„Oh ja“, antwortete Halbord, „groß ist die Fülle seiner Räume und Säle …“ Das musste er irgendwo gehört haben.
„Es gibt Zimmer, da ist überhaupt noch nie nie jemand gewesen“, platzte Jeremias heraus.
„Du bist ja dumm“, wies ihn Halbord zurecht. „Dietrich war überall, der kennt alles, jawohl.“ Es war klar, der Hausherr Dietrich, das war sein Vorbild, so wie der wollte er mal werden …
„Verlauft ihr euch nie?“ fragte Eluard.
„Doch“, sagte Lili, bevor Halbord antworten konnte. „Außerdem gibt es zwei Flügel, dahinten, da geht nie jemand hinein …“
„Flügel?“ fragte Waldemar.
„Na ja, das sind Häuser, die hängen an einem anderen dran, verstehst du?“
„Ja“, antwortete Waldemar.
„Und die Türme“, sagte Eluard. „Kann man da hoch steigen?“
„Ja“, antwortete Lili, „oh ja, weißt du, es ist schön da oben, man kann ganz weit sehen, und die Wolken … der Tischler Bertram, der wohnt da oben drin, da …“ – sie wies mit ausgestrecktem Arm hinauf zu einem der vorgelagerten Türme über dem Hauptportal – „und ich darf ihn immer besuchen, und wenn ich da zum Fenster rausgucke, ich stell mir immer vor, dass ich fliege, da kann man die Erde gar nicht mehr sehen, bloß den Himmel …“
Sie schwieg wieder, Halbord machte ein überlegenes Gesicht, was kleine Mädchen halt so alles reden, darüber war er hinaus, aber er sagte nichts, einmal hatte er den Mund zu weit aufgemacht, und da hatte sie zu seiner Bestürzung angefangen zu weinen, das hatte er nun doch nicht gewollt. Übrigens hörte Eluard ihr aufmerksam zu.
„Es ist lang-lang-langweilig“, begann auf einmal Jeremias zu jammern.
„Gehen wir in die Halle?“ schlug Halbord vor.
„Ja“, sagte Lili, „das ist gut.“
Sie stand auf von der Treppe, drückte die Puppe an sich und klopfte sorgfältig ihr Kleidchen ab. „Wir zeigen euch die Halle“, sagte sie, „die ist groß, ihr werdet staunen …“
Die anderen erhoben sich, und Halbord sagte: „Ich geh voran …“ Aber das verstand sich ja von selbst.
In den rechten Flügel des Hauptportals hatte man eine kleine Tür eingeschnitten, gerade groß genug, dass eine einzelne Person hindurchgehen konnte, das war sehr praktisch, so musste man nicht immer den riesigen eichenen Flügel aufschwingen, wenn man hindurchwollte, dazu hätte es der ganzen Kraft eines erwachsenen Mannes bedurft.
Halbord öffnete die kleine Tür, er tat das gewichtig, im Bewusstsein seiner Verantwortung, und blieb wartend stehen, bis alle durchgegangen waren; dann schloss er sie wieder.
Drinnen war es dunkel; dunkel und kühl, und es roch nach Stein.
„Man kann ja nichts sehen“, klagte Waldemar.
„Wartet nur“, sagte Halbord, „ich kenn mich hier aus, ich geh voran …“
Waldemar hielt sich dicht hinter Halbord, dann folgte Jeremias, der den Weg kannte, und Lili nahm Eluard bei der Hand.
Sie tasteten sich entlang finsterer Korridore, die durch die Vorwerke in die Tiefe des Hauses drangen, man merkte jetzt erst richtig, wie riesig es war. Überall herrschten Dämmer und der gleiche Geruch nach Stein, ab und zu fiel durch ein entferntes Fenster, unsichtbar hinter einem Winkel gelegen, etwas Licht herein, fahl und grau, auch gingen seitwärts Treppen ab, nach oben, geschwungen und eng, die mussten wohl in die Türme steigen, das war ihre Pflicht.
„Wart nur“, sagte Lili zu Eluard, „wir sind gleich da.“
Der lange steinerne Korridor öffnete sich in eine Innenhalle, hier war es stockfinster, es gab keine Fenster, aber eine Halle musste es sein, man hörte es am Geräusch der Schritte, das sich plötzlich weit nach oben und zu den Seiten hin verlor.
„So“, flüsterte Halbord, „gleich sind wir da.“ Er flüsterte, ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben, man macht das so in dunklen Räumen, und die anderen fanden es in Ordnung und angemessen.
Eine Tür knarrte, und dann wurde es hell, hinter der Tür war es hell, und sie gingen hindurch.
„Ist die groß!“ rief Waldemar.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)